In der amerikanischen Fernsehserie ‚Friday Night Lights‘ verunglückt gleich zu Beginn Quarterback Jason schwer. Seine Mannschaft schreibt seinen Namen unter das Dillon Panther‘- Logo der Mannschaft und immer, wenn sie nun aufs Feld ziehen, klatschen alle auf Namen und Logo und rufen ‚Clear Eyes, Full Hearts, Can’t lose‘. Es ist eine Serie, aber ich mag die Botschaft, das Ritual. Seit ein paar Tagen tippe ich alle Steine mit dem Muschelzeichen an. Mit einer leichten Handbewegung und mit Stolz. Ich bin schon weit gegangen und weit, mit vielen Pausen in meinem Kopf. Ab jetzt soll der Camino auch ein Weg mit meiner Schwester sein.
Tag 24
Der erste Morgen mit meiner Schwester. Sie hat viel zu erzählen. Das ist gut, denn die vielen Kilometer aus Ponferrada an der großen Strasse raus, sind selten mit Freuden verbunden. Doch der erste Kaffee findet in der Sonne statt, im Frühling. Wie ein Spa für Körper und Seele! Wir laufen und reden. Plötzlich hält ein altes Auto, mit einem alten Fahrer. Er spricht uns auf spanisch an. Am Ende verstehen wir, dass wir nicht mehr auf dem Camino sind. Also zurück, was man bei vielen zu gehenden Kilometer nicht gerade mag. Als wir wieder auf dem Camino sind, kommt uns der nette Spanier nochmal entgegen und hebt den Daumen. Beim nächsten Halt treffen wir zwei Mädels aus Italien. Sie erzählen uns, dass sie ab morgen mit dem Pferd unterwegs sind. Und sie schlagen uns vor, dies auszuprobieren. Meine Schwester und ich nicken. Als die beiden weg sind, müssen wir lachen. Niemals würden wir dies tun. Als Kinder im Ferienlager an der Ostsee wurde uns dies auch angeboten. In den Garten der Unterkunft kam ein altes Pferd, alle Kinder durften sich nach und nach raufsetzen und im Kreis laufen. Uns tat das Pferd leid und auf dem Pferderücken sitzend, kam uns die Welt viel zu hoch vor. Das nächste Café hat tollen frischen Orangensaft im Angebot. Wir schlagen zu. Im Fernsehen läuft wie schon so oft Queen. Mit dem großen Song ‚The Show must go on‘. Ein großes Konzert. Viele Kilometer frage ich mich, ob ein Jubiläum ansteht. Unsere Show endet heute in Villafranca del Bierzu. Nach 24 Kilometern. Wir haben ein Zimmer in der Herberge San Nicolas el Real. Und sind überwältigt. Es ist ein großes Kloster, mit langen Fluren, alten Holzböden, einen Geruch, der seit Jahrhunderten in den Räumen lebt. Der Wein ist nicht so alt, den wir bestellen. Wir sitzen im Innenhof, mit Martha aus der Schweiz. Und fühlen uns wie in der Serie ‚Downton Abbey‘. Okay, die Klamotten stimmen nicht. Aber irgendwie lassen wir uns auch bedienen, sitzen einfach nur rum und plaudern. Das letzte Mal habe ich Martha an meinem 4. Tag gesehen. Hier nun mit ihr und meiner Schwester über andere Pilger, über unser Leben, über die nächsten Tage zu plaudern, fühlt sich toll an. Und es ist, als hätten wir nie etwas Anderes getan. Als wäre dies hier unser Leben.

Ab und an kommt ein Pilger aus Korea vorbei und winkt! Auf dem Camino Frances sind viele junge Leute aus Korea unterwegs. In ihrem Land gibt es eine berühmte Doku, mit einer Band, die auf dem Weg unterwegs war. Dieser folgen nun viele.

Tag 25
Wir starten früh, schon kurz nach 7 Uhr und treffen Fabian aus Sachsen-Anhalt, was an seiner Sprache sofort zu erkennen ist. Er ist allein unterwegs. Frau und Kinder haben ihn ziehen lassen. Doch schon am ersten Abend war die Einsamkeit für ihn eine Herausforderung. Das ist auch der Camino. Man startet mit perfekter Ausrüstung und motiviert und kann schon nach ein paar Kilometern oder ein paar Tagen nicht fassen, was der Weg in einem aufbrechen lässt.
Die Luft ist an diesem Morgen sehr klar, sehr frisch, so als hätte noch keiner diese geatmet. 4 km sind es bis zum ersten Café und wir reden die ganze Zeit über Kaffee. Diesen haben wir dann gemeinsam mit Richard aus England. Ich nenne ihn sofort King Richard, was er liebt. Bei jedem Pilger stellt er sich nun so vor. Er kann ein wenig Deutsch, sein Vater unterrichtete diese Sprache. Ich mag Richard sofort, man spürt seinen feinen englischen Humor. Er hat herrliche Lachfalten. Seine Augen schauen wach. Er strahlt aus sich heraus. Vor 10 Jahren war er auch hier unterwegs. Pilger, die er damals kennenlernte, sind heute noch gute Freunde.
Gestärkt ziehen wir weiter, es wird wärmer. Der Weg geht immer an einem Fluß entlang, ab und an unter riesige Autobahnbrücken. Beim nächsten Halt lernen wir Janet aus Kanada kennen. Am ersten Tag hier auf dem Camino Frances wurde sie 60. Ihren Geburtstag hat sie fern von ihren beiden Kindern gefeiert, die daheim in der Nähe von Toronto mit ihr leben. Janet trägt ein inneres Leuchten mit sich. Und obwohl sie sichtlich Probleme mit ihren Knöcheln hat, genießt sie jeden Meter, jeden Talk. Gerade als wir losgehen wollen, knallt Cheryl aus Australien in unsere Runde. Ich habe sie nach Leon getroffen, wir umarmen uns. Cheryl ist richtig fertig. Sie erzählt, wie sie heute mehrmals laut ‚Fuck Camino‘ gesagt hat. Gestern hat sie ihre Wanderstöcke in den Müll geworfen, heute läßt sie ihren Rucksack transportieren. Zum 3. Mal ist sie hier und versteht nicht, warum der Weg ihr so schwer vorkommt. Wir bleiben mit ihr sitzen, mit Cola und in der Sonne. Jeder erzählt, was er hier erlebt. Fabian fand es toll, dass er gestern einen Mann mit einem Esel getroffen hat. Plötzlich ruft er: Schaut, da ist er! Wir sind etwas verwundert. Der Mann führt ein Pferd an der Leine. Okay, auch das ist der Camino.
Als wir weiterziehen, geht es mir nicht gut. Zu lange in der Sonne gesessen. Ein Sonnenstich bahnt sich an. Ich bin langsam, meine Schwester und Fabian warten auf mich, achten darauf, dass ich mein Bandana bei jedem Brunnen befeuchte und um den Kopf wickle. In Las Herrerias hat unsere kleine neue Pilgergruppe zwei schöne Zimmer gebucht, mit Balkon und Blick auf Fluß und Wiese mit Kühen. Es ist ein wenig wie in den Alpen. Die Kuhglocken läuten beruhigend, die Flußgeräusche passen zum Blutstrom nach einem langen Wandertag. Wir genießen ein gutes Pilgermenü und begrüßen zum Ende des Abends auch Janet aus Toronto, die im eiskalten Bach ihre Füße gekühlt hat. Kurz bevor ich einschlafe denke ich an Cheryl, die als Australierin ihr Land nicht besonders mag, die ihre Enkelkinder liebt, weil sie finden, dass sie so weich wie ein Kissen ist und die folgenden Worte von Mutter Teresa schätzt: ‚ Wenn du die Welt ändert willst, dann geh nach Hause und liebe deine Familie.‘

Tag 26
Die Chefin des Hostels ist extra eher aufgestanden, um uns Frühstück zu machen. Unfassbar, wir bekommen Rührei, mit herrlich süss schmeckenden Tomaten. Kann ein Tag auf dem Camino besser beginnen. Ja! Wir lernen Leonie aus Stuttgart kennen. Sie ist auf dem Jakobsweg sehr gern allein und schnell unterwegs. Das ist ihre Passion. Wandern, den Körper spüren, an die Grenzen gehen, erfassen, wie es ihr in der fremden Umgebung voller neuer Eindrücke geht. An diesem Morgen zügelt Leonie ihr Tempo, geht mit uns, legt über uns ihre schöne Strahlkraft und Freundlichkeit. Und kluge Fragen. Und dann ist sie weg. Wusch, den Berg hoch. Wir sind nun in Galicien. Die Landschaft ist so grün wie nie, so frisch und freundlich. Aber uns Pilgern wird viel abverlangt. Es geht stetig nach oben, bis auf fast 1400 Metern. Ich bewundere meine Schwester. Es ist erst ihr 3. Tag und sie geht und geht und fotografiert und geht und ist stolz und froh, auf den letzten 200 km hier mit mir zu sein. Fabian erzählt, wie dünn hier seine Haut auf dem Camino Frances ist. Jede Kirche mit einer besonderen Geschichte, jede Story erreicht sofort ungefiltert sein Herz. So kennt er sich in seinem Alltag nicht. Es gibt am Ende dann doch keinen Weg. Der Weg entsteht im Gehen. Ja, die gelben Pfeile zeigen uns, wo es lang geht, aber jeder geht am Ende seinen eigenen Weg bis nach Santiago de Compostela.
An diesem Abend sind wir in Fonfria wieder mit Janet zusammen. Eine neue Familie. Das ist der Camino. Und Leonie meldet sich. Sie ist 10 km vor uns, fühlt sich einsam und fragt, wo wir morgen Abend unseren Rotwein.

Tag 27
Fabian und Janet benötigen einen Tag Pause. Sie nehmen den Bus nach Sarria, meine Schwester und ich wagen den krassen Abstieg. Ich habe auf anderen Wanderwegen gelernt, dass es manchmal einfacher ist, bergab zu joggen, als zu gehen. An diesem Tag sind wir komplett allein, es gibt keine Bars, nur einmal einen Automaten mit kalten Getränken. Nach den vielen Kilometern berghoch gestern, geht es meiner Schwester und mir heute nicht so gut. Wir machen mehr Pausen, trinken lauwarmes Wasser unter Bäumen, essen Gummibärchen. Die Familie aus Deutschland meldet sich und ist stolz, wie tapfer wir uns durchkämpfen. Ich schreibe zurück: ‚Ja, wenn wir hier auf der Straße liegen, hebt uns keiner auf.‘ Und dann ist es wie oft auf so einem langen Weg. Wir kommen an der Unterkunft an, Leonie winkt auf einer Liege in der Sonne liegend uns zu und Fabian weiß bereits, wo wir am Fluß Wein trinken und einkaufen können. Ich weiß schon jetzt, dass dieser Abend für mich daheim nach langen Arbeitstagen eine Rettungsinsel im überfüllten Kopf sein wird. Gemeinsam kochen. Gemeinsam essen. Und dann lauschen wir alle Janets Geschichten. Janet Lynn Morten is a Canadian visual artist who is known for her knitted works … schreibt Wikipedia. Wir sitzen da, mit offenem Mund. Und immer wieder stellt Leonie die richtigen Fragen. Sie ist jung, sie ist neugierig, sie ist ON, sie ist schön. Was sie vielleicht nicht weiß, weshalb ihre Natürlichkeit so strahlt. Wäre ich ihre Managerin, würde ich sie bei Heidi Klum als Model anmelden.

Wir teilen uns alle ein Zimmer, einen Weg, ein gemeinsames Essen – an diesem Abend. Noch lange beschäftigen mich, eingekuschelt in meinem Schlafsack, unsere unterschiedlichen Pfade.