#7 / Von Sarria nach Santiago de Compostela / Tag 28 bis Tag 32 (816 km) / Mein Dein Euer Unser Aller Weg

Bill Bryson ist Reiseschriftsteller und lebt mit seiner Frau in der Nähe des Appalachian Trail, ein 3500-km-langer Wanderweg, der durch 14 Bundestaaten der USA verläuft.Irgendwann beschließt der Fast-Rentner den Weg zu gehen, nicht zur Freude seiner Frau. Immer wieder legt sie ihm negative Nachrichten über den Trail auf seinem Schreibtisch: Wanderer von Bären angefallen … Tornadowarnung für Wanderer… Waschbären klauen Rucksäcke. Auf dem Camino gehen wir sicher von Café zu Café,  sehen nur uns bekannte Haustiere und schlafen in sauberen Unterkünften.  Bill Bryson lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, in der Wildnis mit sich zu sein, geht los und kehrt gesund heim. 

Ich bin auf dem Camino und verstehe Bill Bryson. Die Hoffnung, Klarheit zu spüren, erfüllt sich und  wird zur Sucht. Die Reduktion auf das Allernotwendigste lässt Ängste verschwinden. Der Wunsch, viele Stunden so einfach und unkompliziert wie möglich verbringen zu können, wird wahr. Die Hoffnung, dass man Ballast abwirft und man nur mit seinen eigenen Gedanken und vielleicht sogar spirituellen Bedürfnissen übrigbleibt, geht klar. 

Alte Hikerschuhe beflanzt

Tag 28
Und wusch ist Leonie an diesem Morgen verschwunden. Für viele endet der Camino Frances in Santiago de Compostela, doch Leonie möchte ihn in Finisterre am Meer beenden. Ich habe ihr gesagt, dass sie den Finger in den Ozean tunken soll, denn dann ist sie mit der ganzen Welt verbunden. 
Ab Sarria ist der Camino so voll wie der berühmte Rennsteiglauf im Thüringer Wald. Hier beginnen mehr oder weniger die letzten 100 Kilometer bis zur berühmten Kathedrale in Santiago. Wer diesen Rest geht und jeden Tag zwei Stempel in seinem ‚Carnet de Pelerin‘ (Ausweis für Pilger, der u.a. garantiert, in kirchlichen Herbergen, wo Bett und Pilgermenü nur ein ein paar Euros kosten, einen Platz zu bekommen), sammelt, bekommt am Ende in Santiago die Compostela, ein Urkunde, die Pilgern das Ende ihrer Wallfahrt bescheinigt. 

Mein Stempelbuch mit 69 Stempeln

Beim ersten Kaffee-Stopp an diesem Morgen sehe ich, wie ein Taxi hält, eine Frau dieses verläßt, ihren Pilgerausweis am Eingang des Cafés selbst abstempelt und wieder ins Taxi hüpft. Ich verschlucke mich fast an meinem Cafe con Leche. 


Die letzten 100 Kilometer! Jeder Meter zählt nun doppelt. Ich will alles aufsaugen und konservieren. An diesem Morgen lässt der Nebel uns einen Pfad frei. Die Welt hüllt er in ein weiches Kleid, nur Konturen des Geländes sind zu erahnen. Der Weg schlängelt sich lange nach oben, bis auf 700 Metern. Es wird wärmer und wärmer, die Pausen werden im Schatten verbracht. Kurz vor Portomarin treffen wir King Richard wieder. Er sitzt, strahlend wie immer, mit einem Radler auf der Wiese eines kleinen Lokals. Mit ihm ist Eliia aus Moskau, die europaweit als Produktmanagerin für den amerikanischen Konzern Pfizer unterwegs ist. (Pfizer wurde weltweit berühmt durch die Erfindung von Viagra.) Richard trägt ein rotes Shirt mit der Aufschrift STANFORD. Doch an dieser berühmten Universität war er nie. Seine Frau hat das Shirt in einem Souveniershop in Palo Alto gekauft. ‚Ich will hier die Amis mit meiner Intelligenz verwirren‘, sagt Richard und zieht gleichzeitig ein MIT- Cap auf. 

Tausende Pusteblumen

Wie immer sind die letzten Kilometer am Tag die schwersten. Es geht extrem bergab, da schlagen die Knie an. Solche Strecken jogge ich immer, es ist leichter. Einige gehen rückwärts. Am Ende des Weges für diesen Tag passieren wir den Belesar-Stausee und müssen eine steile Treppe durch den alten Torbogen von Portomarin nehmen. Der See liegt auch den ganzen Abend vor unseren Augen, denn Janet, Fabian, meine Schwester und ich gehen mit Eliia in einem sehr schönen Restaurant essen. Es gibt Paella und Octopus. Ich frage mich die ganze Zeit, ob ich Eliia anspreche, auf den Ukraine-Krieg. Ich bin mir unsicher. Gehört Politik auf den Pilgerweg? Janet stellt sich die selbe Frage. Auf dem Heimweg unterhalten wir uns darüber. Wir entscheiden uns für ein NEIN.

Tag 29
Komme ich dem Ziel nach einer langen Wanderung näher, verweigere ich die beginnende Verabschiedung. Doch so richtig kann ich mich dem natürlich nicht entziehen, weil nun immer mehr Pilger auftauchen, mit denen ich gestartet bin, weil Einladungen auf ein gemeinsames letztes Glas Wein in Santiago reintrudeln. An diesem Morgen treffe ich Frederick aus Südafrika wieder. Er ist schmaler geworden, sein Gesicht ist wunderbar gebräunt, obwohl er immer den Hut von Ernest Hemngway trägt. Er ist zufrieden mit sich. Und er erzählt, dass sein Sohn ein paar Tage aus Holland zu ihm auf den Pilgerweg kam.
Und wie immer taucht das koreanische Rat Pack auf. 5 Jungs, die von Beginn an irgendwie mein rechter Flügel sind, stets freundlich, lachend, essend und rauchend.
In Palas del Ray an diesem Abend sind wir wieder mit Janet und Richard zusammen. Eine kleine Familie hat sich hier gemeinsam mit meiner Schwester und Fabian gefunden. Janet erzählt, dass sie heute den ganzen Tag nur an uns und nicht an ihre Kinder in Kanada gedacht hat. Wir bekommen Gänsehaut. Und Yumi aus Japan hat ihr heute unterwegs erzählt, dass mit 60 das Leben neu startet. ‚An meinem ersten Tag hier bin ich 60 geworden. In mein Tagebuch habe ich die beiden Zahlen gemalt und seitdem jeden Tag gemalt. Eine Eule, die fast mein Haar streifte. Und anderes. Wenn ich heimkomme werde ich meinen Job in einer Hebammengemeinschaft kündigen und Malerin werden‘, sagt Janet an diesem Abend. Vielleicht musste Janet deswegen hierherkommen. Am Tisch sitzt auch Joseph, ein Pfarrer aus Pennsylvania. Er fragt reihum, warum wir hier sind. Wir einigen aus auf eine klare Antwort, die keine Erklärungen bedarf: Weil der Weg da ist.

v.l.n.r.: Janet, meine Schwester, ich, Fabian, Josef, Richard



Tag 30 – 31
Nach all den Sonnentagen, sind die letzten beiden Etappen auf dem Pilgerweg eine feuchte Angelegenheit. 10 km vor Arzua setzt Regen ein. Erst nur Tropfen, dann Gießkannenregen, leicht und weich. Dann Landregen, stetig, aber noch zu ertragen. Dann regnet es wie aus Eimern.  Der Himmel schüttet Wasser über uns, als hätten wir einen Termin in der Autowaschanlage gebucht.

Gut, dass meine Schwester und ich in Arzua ein Einzelzimmer haben, wo man die Heizung anstellen kann. Wir trocknen unsere Sachen und ziehen trotz Regen nochmal los. In einem kleinen Lokal finden wir Platz, genießen vegetarische Fajitas und Rotwein und beklatschen die Pilger, die die Stadt erreichen. Mit ihren Ponchos sehen sie im Gehen wie Flatterberge aus. Sie sind alle pitschnass, aber haben strahlende Gesichter, weil nun Essen und ein trockenes Lager winken. Auch meine koreanischen Jungs haben es geschafft und winken wild. 30 km mit nassem Ende, folgen 30 km im Regen mit ein paar Sonnenzipfeln. Aber der Weg zieht uns Richtung Ziel, er lässt uns nicht los. Und immer wieder bekomme ich Fotos von Pilgern, die stolz vor der Kathedrale stehen. Ralf und Johannes gehören dazu.

Ralf und Johannes vor der Kathedrale in Santiago de Compostela.

Und Leonie schreibt: ‚Sitze in der Kathedrale kurz vor dem Pilgergottesdienst und bin so erfüllt und glücklich und versuche zugleich zu realiseren, wie viele Kilometer hinter mir liegen. Wahnsinn.’Am letzten Abend auf dem so alten Weg der Pilger kochen Wanderer aus Kanada, England, Tschechien, Japan, Schweden, Italien und Deutschland zusammen ihr gemeinsames letztes Mahl.

Küchen-Frauenpower, v.l.n.r.: Janet aus Kanada, Lena aus Schweden und Yumi aus Japan

Ich weiss nicht viel über Jesus letztes Abendmahl am Tag vor dem jüdischen Pessach-Fest. Er hatte Wein und Brot mit seinen Aposteln. Und dann beginnt der tragische Teil der Geschichte des Sohn Gottes. Wir Pilger sitzen an diesem Abend in einem Haus gebaut aus Freude, Geschichten und Humor. Mir wird hier zum Ende hin manchmal schwindelig von all den unterschiedlichem Facetten des Lebens, die ich erleben darf. Meine eigene Verletzlichkeit ist so weniger beängstigend.

Tag 32

Der Camino Francés ist der beliebteste Jakobsweg. 65 Prozent aller Pilger gehen diesen Weg, meist von St. Jean Pied de Port bis nach Santiago de Compostela. Mehr oder weniger 800 km. Ich komme nach 32 Tagen an. Gleich nach 100 Metern treffe ich Laurent. Zum letzten Mal sahen wir uns vor 20 Tagen. Ein unvergessener Abend, mit viel Wein. Und so geht es weiter. Bis zu Kathedrale bekomme ich und gebe unzählige Umarmungen. Die Stadt ist voller Pilger, die humpeln, die dünner geworden sind, die strahlen, die grüßen und klatschen. Diesen sehr lebendigen Menschenstrom nun zu erleben, allein dafür hat sich die Reise mit vielen Höhenmetern, Wind, Kälte, Schnee, Schmerzen, guten Gesprächen, kurzen Nächten, einsamen und lebendigen Stunden gelohnt. Vor der Kathedrale zu stehen ist Höhepunkt, Ende und Anfang. Mein Schwester ist aufgeregt und stolz. Janet hat Tränen in den Augen. Roger, ein Weinlieferant aus Italien, ordert zum letzten Mal einen Tisch für uns. Lena aus Schweden freut sich nun auf ihr Hotelbett. Die Mutter von vier Kindern führt ein B&B, ich werde sie besuchen und bei ihr wandern. Ringsum Pilger. Ringsum Geschichten. Es hört nicht auf. Und natürlich haben sich alle im Pilgeroffice ihre Compostela geholt. Insgesamt 1147 an meinem Tag hier in Santiago.

v.lnr.: ich, Roger, King Richard, meine Schwester, Fabian und Janet
Geschafft! Und ab in den Müll.

In der Messe in der Kathedrale verstehe ich nur ‚Amen‘, ‚Halleluja‘, ‚Camino‘ und ‚Penegrino‘. Aber ich habe Gänsehaut und könnte die ganze Zeit meine Schwester und alle anderen Pilger umarmen. Am Ende des Gottestdienstes wird der Botafumeiro, eines der größten Weihrauchfässer der Welt, durch die Kathedrale geschwenkt. Das heilige Räucherwerk soll von Sünden befreien und Menschen vereinen. Mit Tränen in den Augen umarme ich Martha aus der Schweiz, die plötzlich neben mir steht.

An diesem Abend in Santiago sitzen wir mit vielen Pilgern zusammen. Bei gutem Essen und mit Wünschen und Hoffnungen für die Zeit, die kommt. Ich denke an ein spanisches Sprichwort, was ich vor meinem Start gelesen habe: Nach Jerusalem geht man, um Jesus zu finden. Nach Rom geht man zum Papst. Doch auf dem Pfad nach Santiago de Compostella sucht man sich selbst.

Unser aller Weg
Seafood mit Lena, v.l. und rechts: Janet, daneben Richard, Fabian und Roger. Und meine Schwester mit Martha.
Mein Schwester und stolze Wanderin
Und immer wieder unser Zeichen!
Lisa aus Israel, ich und Sarah aus Perth – happy Reunion vor der Kathedrale
Mit meiner Schwester, Richard, Fabian und Johannes auf einen letzten Wein in Santiago.
Überall auf der Welt gibt es Wege!

6 Gedanken zu “#7 / Von Sarria nach Santiago de Compostela / Tag 28 bis Tag 32 (816 km) / Mein Dein Euer Unser Aller Weg

  1. Liebe Jen, schon wieder vorbei! Schön&Schade! Nächstes mal gern wieder länger 😂. Sagt der Leser aus dem warmen Office. Hat wie immer Spaß gemacht, irgendwie dabei zu sein! Freue mich auf das nächste Mal!
    Liebe Grüße
    Pat

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  2. Ich gratuliere Jacie, du hast es wieder geschafft und du beschreibst es so wunderbar, ich erlebe es mit, Gratulation!!! Liebe Grüße aus Down Under Monika

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  3. Herzlichen Glückwunsch, Jac! Bin stolz auf dich! 🙏🏼 Es war wie immer eine Freude, hier auf diesem Weg an deinem Weg Teil zu haben! 🙂

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Danke für die Unterstützung!

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