#4 / Von Carrion de los Condes nach Hospital de Orbigo / Tag 15 bis Tag 19 (492 km) WUNDER GIBT ES IMMER WIEDER

Tag 15

Als ich früh Carrion de los Condes verlasse, denke ich, der berühmte Pilgerführer aus dem Hochmittelalter, Liber Sancti Jacobi, hatte recht, die Stadt ist reich an Brot und Wein. Obwohl, Brot hatte ich gestern nicht. Ich bin schnell. Eine langweile sandige Strasse,18 km geradeaus, ist das Tagwerk heute, welches ich mit einem Minuszeichen versehe. Dafür habe ich es bereits gegen 13 Uhr geschafft, am nächsten Etappenort Terradillos de los Templarios zu sein. Das waren schnelle 27 km. Ich klopfe mir auf die Schulter, schmiere meine Knöchel sehr dick mit Mobilat ein und gehe erstmal ins Bett. Ein paar Stunden später werde ich durch Pilger geweckt. Zeit, zu essen. Zeit, mit Johannes über die nächsten Tage zu reden, über Nachrichten, die wir von anderen Pilgern bekommen. Die Sonne brennt und mittendrin liegt die schöne Herberge, gebaut wie eine Hazienda irgendwo in Mexico. Großzügige Räume, eine schöne Bar, ein reichhaltiges Dinner. Will ich mehr? Für heute ist es genug. Ich habe das bekommen, was ich suchte, meine eigene Stille.

Tag 16

Kurz vor Berciano, mein Etappenziel nach 27 km für heute, treffe ich Becky aus Wales und Lisa aus Israel wieder. Wir freuen uns, wie immer gibt es Umarmungen, strahlende Gesichter gratis und stets das Versprechen, dass man sich wiedersieht. An Lisa hatte ich die letzten Tage gedacht. Sie ist noch vor dem Krieg von der Ukraine nach Israel gezogen. Nach dem Jakobsweg will sie ihre Eltern in ihrer alten Heimat besuchen. Sie hofft, dass es geht. Man muss über die polnische Grenze einreisen, erzählt sie. Unterwegs habe ich ein paar Mal ‚Peace for Ukraine‘ neben dem gelben Wegepfeil gelesen. Manchmal stand da auch ‚Free Palastina‘ oder ‚Love Linda.‘ Im Hostel in Bercianos sitzt Anke aus Holland. Sie hat einen dicken Knöchel und trinkt aus einem mitgebrachten Tetrapack Rotwein im Garten der Herberge. Immer wieder schenkt sie sich ihren Plastikbecher voll und erzählt, wie sie in Sevilla gestartet ist, meistens im Zelt schlief und in den letzten vier Wochen sich nur ab und an ein richtiges Bett leistete. Doch nun wird sie ihre Reise beenden müssen. Der Fuß macht nicht mehr mit. ‚Man schafft nicht immer das, was man schaffen will‘, sagte Anke. ‚Aber ich bin losgezogen. Zuhause werde ich sehen, ob mich der Weg verändert hat.‘ Dann verabschiedet sie sich und geht mit ihrem noch gefüllten Becher ins Bett, der leer ist, als ich am nächsten Tag bereits sehr früh starte.

Tag 17

Vollmond. Ich erlebe, wie der Mond gegen die aufgehende Sonne kämpft. Doch er verliert. Wie immer. Kurz bevor die Sonne so richtig da ist, wird es ein wenig kälter. Ich weiß nicht, warum dies so ist. Als öffnet jemand nochmal kurz den Kühlschrank, für frische Luft, bevor alles warm und staubig wird. Ich friere. An den Ellenbogen. Ich wußte nicht, dass dies möglich ist. Dafür sitze ich Stunden später in Rellegios in der Herberge ‚Las Hadas‘ gemütlich in der Sonne. Die junge Chefin zeigt mir stolz die neu gemachten Zimmer, es gibt sogar Bettwäsche. Im Garten ist ein großer Hund der Chef, der will ununterbrochen gestreichelt werden. An einem Tisch spielt die Tochter der Chefin mit ihrem Opa ein Würfelspiel. Sie erklären es mir auf spanisch, ich denke, es ist wie ‚Mensch ärgere Dich nicht‘. Ich bekomme Rotwein und Oliven und löse mich von der Zeit. Sie bestimmt den Weg nicht. Sie gibt den Rhythmus des Tages nicht vor. Laufen, Sitzen, Geniessen, Entdecken, Schweigen, Reden, Essen, Trinken, Schlafen – alles ohne Zeit.

Tag 18

An diesen kalten Morgen rettet mich eine kleine Bäckerei. Es riecht wie daheim. Die Kekse sind knusprig und krachen, wenn man reinbeißt. Den Duft des Ladens habe ich noch lange auf meinem Weg in der Nase. Das ist gut so. Führt der Jakobsweg in eine große Stadt, so wie heute nach Leon, ist dies meist eine Straßenschlacht. Nicht schön. Ich lenke mich ab und denke weiter über Gerüche nach. Früher als Schulkind weckte mich immer meine Mama mit einem Wangenstreichler. Da hatte sie schon den ersten Teil ihrer Arbeit als Postzustellerin geschafft. Ihre Hände rochen nach Druckerschwärze. Ich rieche noch heute in Zeitungsläden an den frisch gedruckten Produkten. Mein Vater war Tankwagenfahrer, der Geruch nach Benzin gehört auch zu meiner Kindheit. Wenn ich als Schülerin von der Arbeit im Schweinestall heimkam, musste ich mich im Keller umziehen. Den Geruch nach Schweinen mochte keiner bei uns. Nach Schweiß stinkend komme ich in Leon an. 

Hier haben sich alle fein gemacht, es ist Feiertag. Die Bars und Straßencafés sind voll. Also schnell duschen und auf zur berühmten Kathedrale. Doch mein Zimmer ist besetzt, ich muss lange telefonieren, bis ich im Hostel Leon einen Ersatz bekomme. Dafür ein schönes Zimmer mit Balkon. Nach vielen Nächten mit mehr oder weniger fremden Menschen und all ihren Geräuschen und nächtlichen Gepflogenheiten ist ein Einzelzimmer das Paradies auf Erden. Jeder Quadratmeter gehört mir, jede Steckdose, der Stuhl und alle Kleiderhaken. Am frühen Abend ziehe ich los.

 Ich bin mit Johannes und mit Ralf aus Karlsruhe verabredet. Auf Wein und Tapas, in Wanderklamotten, ohne geföhntem Haar und Make-up.

Ralf, der schon mehrmals auf dem Camino war und spanisch spricht, kennt sich mit allem und überall aus. In Leon muss es eine Bar sein, wo zum Tinto de Verano Tapas nach freier Auswahl gehören. Der Wein ist hier beliebter als Sangria – ein Gemisch aus leichtem Sommerwein mit Zitronenlimonade, serviert auf Eis. Mehr als zwei Gläser empfehle ich nicht, die Kopfschmerzen klopfen sofort an. 

Es wird ein fröhlicher Abend in Leon, dabei ist Michail aus Polen, wir treffen uns seit Beginn an immer mal wieder. Zum ersten Mal umarmen wir uns, ein paar polnische Brocken fallen mir ein. Michail ist aus Wrozlaw und auf dem Camino allein unterwegs. Immer, wenn ich irgendwo ziemlich fertig ankomme, sitzt er bereits geduscht und mit Bier in der Herberge.

 In Leon sehe ich an diesem Abend noch viele Pilger der letzten Tage. Immer wieder gibt es ein fröhliches Wiedererkennen, einen Talk, einen Daumen hoch und stets die brühmten zwei Worte ‚Buen Camino.‘

Tag 19

Katja Ebstein wurde berühmt mit dem Song ‚Wunder gibt es immer wieder‘. Sie können passieren, heute oder morgen, singt sie. So ist es auf dem Jakobsweg. Als Johannes Fuß sich sehr schmerzhaft meldet, liegt plötzlich ein perfekter Ast vor ihm auf dem Weg. Nun hat er einen natürlichen Wanderstab und es geht besser. Frank ist bis nach Barcelona geflogen und von dort einfach losgelaufen. Er trifft einen alten Schulfreund, kurz nach seinem Start. Als ich auf dem Pacific Crest Trail war, traf ich eine Frau, die den Camino ging, um endlich schwanger zu werden. Zwei Monate nach ihrer Rückkehr nach Portland erfüllte sich ihr Wunsch. Ein Wunder kann die heiße Dusche sein, das Bett, was keine Geräusche beim Seitenwechsel macht. Ein Pfad ohne Steine. Ein Schattenplatz genau zu richtigen Zeit. Eine Einladung zum gemeinsamen Leeren des großes Nudeltopfes in der Unterkunft. Wincent Weiss singt ‚Es wär schön blöd, nicht an Wunder zu glauben.‘ Er hat recht.

Ich wundere mich an diesem Tag über Cheryl aus Australien. Zum 3. Mal ist sie auf dem Camino. Ich frage sie, was mit Trails in Tasmanien ist oder mit dem schönen Te Araroa in Neuseeland. Sie müsste schließlich nicht so weit fliegen. ‚Hier ist alles viel billiger. Ein Euro für einen Kaffee. Eine Unterkunft für 7 Euro. Das kann ich mir leisten‘, berichtet Cheryl. Sie hat ein sonniges Gemüt und erzählt fröhlich. Und schwupp weg ist sie, zieht weiter. Sie rennt fast. Aber jeder läuft seinen Camino. Ich bin früh schnell. Kommt die Sonne, verlangsame ich mein Tempo, pausiere und komme gern mit anderen Pilgern ins Gespräch. An diesem Abend bin ich allein im Casa de los Hidalgos in Hospital de Orligo. Einsamkeit pur in einem 100 Jahre altem Haus, nach 32 km. Das Bett hat einen Vorhang und obwohl keiner mit mir im Raum ist, ziehe ich den Vorhang zu und bin auf meinem kleinen stillen Planeten.

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