Tag 9
Ich habe den Wind nicht bestellt. Wind und Wandern ist keine gute Kombination. Der Wind schiebt, er drängt dich zur Seite, er fegt dir Dreck ins Gesicht, er saust durch die Mütze in die Ohren, er sorgt für Tränen und bringt die Nase zum Schniefen. Auf meinem Weg nach Villafranca montes de Oca fegt er von vorn auf mich zu. Es ist als müsste ich ihn mit mir tragen. Die Sonne lässt sich nicht blicken, es ist kalt. Zum ersten Mal rede ich mit mir selbst, fordere mich auf, keine Memme zu sein. Wenn man sich auf keine Diskussion einlassen will, stellt man auf stur. Das mache ich auch. Ich lasse mich nicht von den Naturgewalten niederringen, schalte auf D wie bei einem Auto mit Automatik und gehe und gehe und gehe. Pilger treffe ich die ersten Stunden nicht. Erst in Belorado in einer Bar. Heute sitzen alle drin, flüchten vor Wind und Kälte, trinken Tee und essen Tortilla. Die spanische Tortilla gibt es landesweit. Sie ist ein Nationalgericht und besteht hauptsächlich aus Ei und Kartoffeln. Jede Bar hat ihre eigene Tortilla, sie schmeckt auch immer anders. Mal ist sie fluffig, mal locker, mal fest. Mal mit mehr Zwiebeln, mal mit mehr Kartoffeln. Ralf aus Karlsruhe hat mit erzählt, dass er mal Zeuge eines Tortilla-Streites war, als er im Winter den Jakobsweg ging. Zusammen mit drei Spaniern wurde eine Tortilla zubereitet. Was nicht sehr schnell ging, da man sich stritt über den Aufbau, die Eimenge, das Schichten, das Backen. Ralf hat nur die Kartoffeln geschält und friedlich aufs Vertilgen gewartet. Tortilla gibt es hier auch im Kühlregal, aber die habe ich noch nicht probiert.
Nach 34 km kaufe ich mir in Villafranca Nudeln, Paprika im Glas und Ketchup. Mehr hat die kleine Bäckerei nicht im Angebot im Regal für Wanderer. Dafür gibt es Backgut in Krokodilform. Im kleinen Hostel La Alpargateria werde ich freundlich empfangen. Dann koche ich und schaffe nur eine kleine Portion. Ich lege ein Zettel auf den Herd: Für Alle!
Tag 10
Der Topf ist am nächsten Morgen leer, aber nicht abgewaschen. Ich hinterlasse alles sauber und ziehe mit Stirnlampe bereits vor 6 Uhr los. 38 km liegen heute vor mir. Meine längste Etappe. Es ist noch immer windig, aber der Weg schlängelt sich durch einen Wald. Plötzlich steht mitten auf dem Weg ein alter Lieferwagen. Zu sehen ist niemand. Ich denke an den Film ‚Das Schweigen der Lämmer‘. Würde mich jetzt ein Fahrer bitten, einen alten Sessel mit in den Wagen zu heben, würde ich rennend mit Rucksack einen Weltrekord aufstellen. Ich gehe leise, ohne die Wanderstöcke einzusetzen, am Wagen vorbei. In Ages stoppe ich durchgefroren an einer kleinen Herberge. Der Wirt ist freundlich, er kocht mir eine große Kanne Tee. Dann ziehe ich weiter. Irgendwie sind alle anderen Pilger aufgehalten worden. Ich bin allein und rede laut, wenn ich etwas passiere: Hallo, altes Haus! Na, du bist aber eine schöne Brücke. Wow, prachtvoller Kirschbaum… Ja, es geht mir gut. Ich gehe. Dann beginnen die letzten 8 km vor Burgos. Sie wollen nicht enden. Nur Straßen. Dann ein Flughafen. Immer wieder sausen kleine Sportflieger dicht über meinen Kopf und landen krachend. Das Passieren des Flugfeldes dauert ewig, als laufe ich am BER vorbei. Dann endlich Burgos, die Stadt ist leer. Wo sind alle? Als ich später in einer kleinen leeren Bar sitze, frage ich den Barkeeper, wo alle sind? Er zeigt auf den Fernseher. Es läuft Fußball. Burgos gegen Santander. Ein Lokalderby. 30 min später füllt sich die kleine Bar. Der Wirt hat zu tun. Bier und Schnäpse wandern über den Tresen. Es wird gefeiert. Burgos hat gewonnen.

Tag 11
Ich starte so früh, dass wieder in Burgos keiner unterwegs ist. Wie gut, dass hier die kleinen Bars immer offen haben. Im TV läuft Formel 1, aber weder die Kellnerin noch ich schauen hin. Der Kaffee ist wie immer gut. Ich mag diese kleinen Orte. Sie erinnern mich ein wenig an die alten Berliner Eckkneipen, die es kaum noch gibt. Gleich bei mir um die Ecke daheim hat das ‚Pasteur-Stübchen‘ noch geöffnet. Gefühlt sitzen dort immer die selben Männer am Tresen, das Bier ist günstig und Petra hat auch immer den Fernseher an.
Der Weg heute nach Hornillas del Camino gefällt mir. Er geht über eine Hochebene, man hört keine Autos, nur Stille und Weite. Aber es ist sehr kalt. Minus 1 Grad. Wie gut, dass der Wind noch schläft. In Hornillas del Camino bekomme ich in einer kleinen kirchlichen Herberge ein Bett. In meinem Zimmer sind nur ältere Spanier. Sie grüßen nicht, sie sprechen nicht mit mir. Ich gehe zeitig zu Bett, es ist eine kalte Nacht, vielleicht auch, weil ich mich einsam fühle. Einsamkeit beim Wandern hingegen liebe ich. Ich empfinde sie als etwas Positives, sie gibt Raum für innere Betrachtungen.
Tag 12
Im stummen Zimmer voller Pilger hält mich nichts. Ich gehe bereits um 5:30 Uhr los. Wieder Minusgrade, die ersten Sonnenstrahlen sehne ich herbei.
Dann plötzlich Musik. Woher kommt sie? Ich entdecke ein Haus, mitten auf der Wiese. Es läuft tatsächlich ein Lieblingssong von mir. Tom Odell ‚Another Love‘. Ich singe mit, hinter mir Becky aus Wales und Lisa aus Israel auch. Sie tanzen sogar. Dann gehen wir gemeinsam weiter, plaudern über Wege, die wir schon gegangen sind. Über Pilger, die wir getroffen haben und darüber, was wir heute Abend essen werden.Wir sind alle in der Herberge Orion in Castrejewitz. Hier gibt es für alle Insassen ein koreanisches Dinner. Es ist anders, es ist gut. Mit Rotwein und fröhlichem Geplapper. Zum ersten Mal bin ich in einem reinen Mädchenzimmer gelandet, wir feiern es und die Mädels freuen sich, dass eine Nacht ohne Schnarcher ansteht. Da muss ich sie leider enttäuschen. Alle schauen mich an. Stille. Dann lachen sie und holen wieder ihre Ohrstöpsel raus.
Tag 13
Am Morgen führt der Camino am Tafelberg von Castrojeritz vorbei. Hoch oben auf 900 Metern thront eine mittelalterliche Burgruine. Ihr Verfall ist wie ein Zeichen für den Ort. Früher eine Pilgerhochburg, ist der Ort heute fast leer gezogen, viele Häuser verfallen. Johannes aus Osnabrück hat sich gemeldet. Es geht ihm gut, er ist einen Tag hinter mir. Wieder führt der Jakobsweg über eine schöne Hochebene, Teil des Iberischen Gebirges. Die Ortschaften liegen hier alle über 800 Meter. In den Orten leben hauptsächlich Rentner. Die Region ist von Landflucht geprägt, die jungen Leute sind in die Städte gezogen, mit Landwirtschaft kann man kaum noch Geld verdienen. Ich freue mich, wenn ich Traktoren auf dem Feld sehe. Einer steht verlassen am Wegesrand. Ich könnte ihn mir schnappen. Ich habe früher auf dem Land im Sommer mein Geld mit Postaustragen und mit Traktorfahren verdient. An die Abende nach getaner Arbeit, mit den Jungs und einem Bier in der Hand, auf Strohballen sitzend, erinnere ich mich gern.

Heute geht es bis Fromista, 26 km sind es bis dahin. Ein schöner Weg. Bei meinem ersten Halt treffe ich Sarah aus Perth, Australien. Auch sie nimmt sich eine Auszeit vom Familienleben und erzählt doch von ihren beiden erwachsenen Kindern. Sie zeigt mir Fotos und berichtet von Telefonaten mit den Lieben daheim. Sie wundert sich immer, wie weit sie weg sind und wie wenig sie vom Leben mit dem Weg hier verstehen. Mit dem Rucksack von Ort zu Ort ziehen, mit Fremden in einem Raum schlafen, in dreckiger Kleidung Kuchen genießen, mit Pilgern über Privates sprechen, mit wunden Füßen bei viel Rotwein, verstehen wirklich nur die, die sich mit dem Camino verbinden. Raus aus dem Alltag, für Tage, die nur aus Wandern, Essen und Schlafen bestehen. Bekommt man ein schlechtes Gewissen, weil alles so belanglos erscheint? Ich denke, jeder trägt hier sein Gepäck, ob leicht oder schwer. Minimierung, um sich wieder zu spüren und zu fühlen, sich selbst besser zu hören. Dazu gehört Mut.

Ich habe ein Bett in der Herberge Estella del Camino bekommen. Schlaf finde ich kaum. Neben mir liegt ein Mann mit einem Atemgerät, dass die ganze Nacht geräuschvoll für die Sauerstoffzufuhr sorgt. Der Camino ist für jeden da.
Tag 14
Am frühen Morgen leiste ich mir in der Panederia Salzar ein Stück Kuchen. Es ist riesig. Danach habe ich das Gefühl, dass die Bäckerhefe in meinem Magen weiter aufgeht. Immer wieder muss ich stoppen und Wasser trinken. Bis nach Carrion de los Condes sind es heute nur 20 km. Und ich habe mir in einem Hostel ein Einzelzimmer gebucht. Darauf freue ich mich. Unterwegs holt mich Johannes ein. Er war schnell unterwegs. Nun hat er Schmerzen im rechten Span und der Knöchel ist auch leicht geschwollen. Wir verabreden uns am Zielort, vielleicht hilft mein Kniesiotape ihm ein wenig. Unterwegs halte ich an einer schönen Kirche, trinke Tee, der Kuchenklops quält mich noch immer. Das Barpersonal ist schnell und freundlich. Hier weiß man genau, wann und wie viele Pilger den Ort passieren. Überall auf dem Weg gibt es immer Schilder, meist auch in englischer Sprache. Die kleinen Orte leben von den Pilgern. Seit dem 11. Jahrhundert zieht es Pilger aus aller Welt zum Grab des heiligen Jakobus nach Santiago de Compostela. Der Weg ist heute attraktiv für Weitwanderer, man wird gut versorgt. Und der Weg hat den Ruf, dass er Wanderer verändert. Von Kirche zu Kirche. Von Herberge zu Herberge. Von Gespräch zu Gespräch. An diesem Abend sitze ich mit Johannes zusammen, mit Laurent aus Frankreich, mit Alexandre aus der Schweiz, mit Jasper aus Dänemark. Es geht um die Arbeit bei Peugeot, um den Verkauf von Turbinen, um die dänische Küche, um Ideen für ein perfektes Work-Live-Balance-Leben. Aber für mich sitzen hier auch Singles, die losziehen mussten, weil das gebaute Haus ins Wanken geriet, Säulen wegfielen, ein Plan für ein neues Fundament gesucht wird.

wie lieb, 3.teil folgt
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danke und auf bald im sommerhaus
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Peinlich, habe die Tage gezählt bis zum nächsten Text von Dir, ich suchte es total 😂.
Insbesondere weil unsere Leben und die von uns gesetzten Prioritäten nicht mehr die großen Schnittmengen haben, genieße ich es, auf diesem Weg bei Deiner Reise dabei zu sein. Bitte mehr davon!
Liebe Grüße
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Sehr schön geschrieben! Komm gut an und dann nach Hause. Lieber Gruß aus dem Sommerhaus H.
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