Tag 4
Ich bin die erste, die in der kleinen deutschen Pilgerunterkunft in Pamplona erwacht. Kaffeeduft hat sich in meine Nase geschlichen. Als wäre ich im Urlaub mit meinen besten Freundinnen, da werde ich immer mit einem Kaffee am Bett geweckt, wenn ich nicht selbst für den geliebten Service sorge. Aber hier haben Hilde und Elke ihr Tageswerk bereits begonnen. Ich packe meine frisch gewaschenen Sachen zusammen und muss lachen. Gestern Abend hatte Gregory aus Minnesota noch an unsere Tür geklopft, er suchte seine Boxershorts. Doch in unserem Zimmer waren sie nicht.
Ich starte kurz vor halb sieben und laufe durch ein Pamplona mit Partyspuren. Ich gehe wie auf Tesafilm, als würde der Weg mich festhalten wollen. Doch es sind Bier- und Cocktailreste in den Gassen. So riecht es auch. Überall stehen leere Gläser und Plastikbecher rum, die Mülleimer quellen über. Martha aus der Schweiz hat mir gestern erzählt, dass Pamplona jedes Wochenende zur Partyzone wird. Vor allem junge Leute vom Land suchen hier einen schwungvollen Ausgleich zum Leben, wohin sie hineingeboren wurden. Bei mir früher auf dem Dorf sind wir nie in die Stadt gefahren. Die Disco im Nachbarort war schon ein Highlight für uns. Vor allem wenn DJ Spider auflegte, denn der spielte nach 21 Uhr Westmusik.
Am Stadtrand durchquere ich einen Park, ein paar Bänke sind mit Paaren belegt, da hat sich der Ausflug in die Stadt wohl gelohnt – oder es ging kein Bus mehr.
Dann folgt ein Industriegebiet. Volkswagen baut in Pamplona seinen Polo. Ich mache ein Foto. Als ich 1992 das erste Mal in Spanien im Urlaub war, in der Region Katalonien, habe ich von einem Zementwerk ein Foto gemacht und dieses an eine deutsche Zeitung geschickt, denn die suchte das schönste Urlaubsfoto. Platz 2 für mich im Fotowettbewerb.
In Cizur Menor hat ein kleiner Shop auf. Es gibt Kaffee und Süßigkeiten. Perfekt für einen ersten Halt. Dies finden auch Leonardo und Michelle aus Brasilien. Nicht zum ersten Mal treffe ich auf dem Camino Frances Pilger aus Brasilien. Leonardo: ‚Das ist kein Wunder. Unser großer Schriftsteller Paulo Coelho ist den Jakobsweg gegangen. Bereits 1987 hat er darüber geschrieben. Das Buch ist bei uns daheim sehr berühmt und Grund für meine Frau und für mich und für viele Landsleute hier wie Paulo ganz nah der Natur und mit sich zu sein. Wir feiern hier auch unseren 5. Hochzeitstag.‘

Und natürlich erzähle ich den beiden, dass es für uns Deutsche eine ähnliche Geschichte gibt. Hape Kerkelings Buch ‚Ich bin dann mal weg‘ erschien 2006. Auf dem Jakobsweg war er 2001, nach einem Hörsturz und einer Gallenblasen-OP. Er hatte für sich einen trifftigen Grund gefunden und ist losgezogen. Sein Weltbestseller sorgte für Hunderttausende, die es ihm nachmachten und meist zum ersten Mal nur mit einem Rucksack loszogen, auf den Weg zu neuen Erkenntnissen.

Mit Leonardo spreche ich noch kurz über Fußball. Er kennt noch jedes WM-Tor der Deutschen gegen Brasilien von 2014 im Halbfinale und erzählt, wie das ganze Land danach für die deutsche Mannschaft war, weil wir gegen Argentinien im Finale spielten. Und dann sagt er: ‚Früher ging es zwischen meinem Heimatland und Argentinien immer darum, wer den besten Fussballer der Welt hat. Maradona oder Pele. Aber seit letztes Jahr Pele uns für immer verliess, stellt keiner diese Frage mehr.‘ Ich weiss nicht viel über Fussball, aber ich spüre, es gibt nun zwei heilige Helden, die vielleicht da oben kicken.
Bis Puente la Reina, das Tagesziel, sind es viele Kilometer bergab. Ich bin langsam. Ich kenne mich. Ich achte auf meine Knie. Heute haben mich viele Pilger ohne Rucksack überholt. Sie nutzen den günstigen Transport von Herberge zu Herberge. Und weil am 4. Tag sich Knöchel, Knie und Rücken melden. In der Pilgerherberge Padres Reparadores baut Martha aus der Schweiz ihr Lager neben mir auf. Ich mag ihren Akzent. Er hat auf mich eine beruhigende Wirkung und man bekommt Lust auf Käsefondue. Das Schweizer Nationalgericht, wenn es um Genütlichkeit geht. Martha ist Rentnerin, sie war lange Kulturchefin eines Kantons und hat sich, wie sie erzählt, mit schwierigen Direktoren von Museen rumgeschlagen. Zu wandern, ist für sie nicht neu. Seit 50 Jahren ist sie unterwegs, war immer mit ihrem Vater in den Bergen. Kein Wunder, dass sie mich überholt. Sie hat so einen leichten Gang. Für mich ist es eine Mischung aus Schlenzen und Schaukeln. Martha würde niemals so früh wie ich den nächsten Tag beginnen. ‚Mein ganzes Leben musste ich früh aufstehen. Familie und Job. Jetzt stehe ich nie vor 9 auf. Und geniesse es.‘ Nur ein kurzes Gespräch, derweil man sein Bett bereitet, die Wasserflaschen füllt und die nächsten Kilometer checkt! Dies ist nur hier möglich. Ich liebe es. Würde ich daheim in Berlin, wenn ich vom Office nach Hause gehe, jemanden ansprechen? Mit einem Rucksack in einer fremden Welt unterwegs zu sein, heißt für mich auch eine dünne Haut zu haben, wodurch man intensiver fühlt, genauer hinschaut, sich über kleine Dinge freut, fragt und antwortet.
Tag 5
Zeitumstellung. Sommerzeit. Ich muss meine Kopflampe aufsetzen. Ich starte nicht allein. Gregory aus Minnesota geht mit mir um 6 los. Ich frage mich die ganze Zeit, ob er seine Boxershorts gefunden hat. Gregory hat die letzten 20 Jahre im Bildungssystem gearbeitet. Letztes Jahr hat er seiner Familie gesagt, dass er den Camino Frances gehen will. Und er hat ihnen auch gesagt, dass er dazu keine Kommentare möchte. Dann drückt er mich und geht zurück. Er hat kein Foto von der berühmten Brücke in Puente la Reina gemacht: Errichtet im 11. Jahrhundert, angeblich von einer spanischen Königin, die wollte, dass wir Pilger den Fluss Arga sicher überqueren.
Ein schöner Weg an diesem Morgen. Stille. Keine grosse Strasse in der Nähe. Ich bin lange allein, fühle mich gut, spüre meinen Rucksack kaum. Dann höre ich Frederik aus Südafrika hinter mir. Er geht ohne Rucksack. Knieprobleme. Wir nicken uns zu. Er drosselt sein Tempo. Und wir unterhalten uns über Südafrika. Er wohnt in der Nähe der Walker Bay. Die kenne ich. Durch meinen Job. Dort produzieren wir eine Musiksendung. Die Bucht ist berühmt für das Vorkommen von Weißen Haien. Doch, so erzählt Frederik, seit ein paar Jahren geht es ihnen an den Kragen. Schwertwale, Orcas, sind nun dort daheim. Und sie greifen Weiße Haie an. Gerade erst vor ein paar Wochen fand man 14 tote Weiße Haie am Strand. Gestorben, weil ihnen die Leber aus den Körpern entrissen wurde. Frederik: ‚Die Orcas wissen, was gut für sie ist. Die Leber ist pure Medizin. Und die Einheimischen können nichts ausrichten. Dabei leben sie von den Haien. Schiffe bringen Touristen raus aufs Meer, wo sie in Käfige steigen, die ins Wasser gelassen werden. Dann lockt man die Haie mit blutigen Fischresten an und der Tourist ist, ohne in Gefahr zu sein, dem Hai ganz nah. Frederik erzählt und erzählt, Ich denke, er will seine Knie vergessen. Seine Kinder leben in Holland und England, wenn er hier fertig ist, will er sie treffen, ist ja nur ein kurzer Weg. ‚Ich habe die größte Bank Südafrikas mit aufgebaut, aber die Kinder wollten mir nicht folgen. Sie arbeiten als Ingenieure, bauen Strassen und Tunnel in Afrika.
Die meisten Wegbegleiter von heute halten in Estella. Mir geht es gut, ich packe noch knapp 10 Kilometer drauf und gehe bis Villamayor de Monjardin. Eine gute Entscheidung. Die kleine Herberge liegt direkt an der Kirche. Ich klingle und ein Wanderer öffnet. Johannes aus Osnabrück. Zum ersten Mal treffe ich einen deutschen Pilger. Der junge Mann ist erst heute gestartet. Nach meinem langen Tag ist sein frisches Strahlen eine Wohltat. Unser Herbergsvater ist total ON. Der März bringt wenig Gäste und die harten Corona-Jahre haben Spuren hinterlassen, auch wenn im letzten Jahr zum ersten Mal knapp eine halbe Million Pilger auf diesem Weg waren. Er nimmt uns mit zur Kirche gleich nebenan und schließt sie für uns auf. Ich kann endlich eine Kerze anzünden.

Und Johannes stimmt im Altarraum ein paar Töne an. Ich weiß, es gibt die Theorie, dass ein Schmetterling einen Tornado auslösen kann. Ein Flügelschlag, eine Vernetzung von Ereignissen, eine Welle. Vielleicht sind die Töne von Johannes Auslöser für meine Vorbeugung vor dem Altar. Ich fühle es einfach so. Ich bin eine Pilgerin. Ich bin auf einem Weg, der mich im Griff hat und den nicht ich beginne, zu gestalten. Der Abend ist ganz einfach und schön: Johannes und ich sitzen neben der Kirche und trinken Rotwein. Johannes hat studiert, dann in der Nähe von Boston mit behinderten Menschen und später in Deutschland in Integrationsprojekten gearbeitet. Anfang des Jahres beschloss er, auf sich zu achten, weil er sich kraftlos fühlte. Jetzt will erstmal nur gehen. Und vielleicht danach bei einem Freund in einer Gärtnerei arbeiten.
Tag 6
Der Rotwein ist mir zu Kopf gestiegen. Ich stehe trotzdem kurz nach 5 auf. In der kleinen Küche der Herberge gibt es heißen Kaffee. Der bekommt 5 Sterne von mir. Es ist sehr still und kalt, mein Atem wird von der Stirnlampe angestrahlt. Bewegt man mit der Lampe den Kopf nach links oder rechts erscheint die Welt im 3D-Format. Alle Sinne sind besonders geschärft. Irgendetwas klappert im Rucksack. Ich überlege fast zwei Stunden, was das sein könnte Mehr gibt es nicht zu tun. Und mit der Helligkeit verschwindet das Geräusch.

In Los Arcos bewundere ich die Kirche Iglesia de Santa Maria de Palacio. Sie hat ein beeindruckendes Hauptportal. Im Café gegenüber erzählt mir die Besitzern, dass nur am 23. April und am 15. August die Figur der Gottesmutter Maria oberhalb des Portals in der Sonne strahlt. Dies hat was mit der Passion Cristi im April und mit Marias Himmelfahrt im August zu tun. Eine Pilgerin mit mehr Wissen zieht weiter, bis nach Sansol. Ein kurzer Tag, bereits um 14 Uhr liege ich in einer heißen Badewanne. Könnte mit bitte jemand einen Drink reichen. Doch in der kleinen Villa El Olivio de Sansol bin ich komplett allein. Die Besitzerin hat mir auf spanisch und mit vielen Gesten alles gezeigt und erklärt, der Knopf für den Toaster, der für die Kaffeemaschine, eine extra Sicherung für den Herd …. Ich falle nach dem ausgiebigen Bad ins Bett. Es ist dunkel als ich erwache, das Haus noch immer leer, alle Türen offen. Aus meinem Rucksack zaubere ich Nudeln und eine Büchse mit Tomaten. Ich korrigiere, mit San-Marzano-Tomaten. Das sind flaschenförmige, sehr süsse Fleischtomaten. Die besten laut Tim Mälzer. Er kocht immer mit ihnen. Voll und glücklich falle ich nach dem Essen sofort ins Bett. Über die vielen Kohlenhydrate mache ich mir keinen Kopf, morgen sind es bis Navarette fast 33 km. Doch bevor mir die Augen zufallen, schließe ich meine Zimmertür ab. Auf dem Pacific Crest Trail, er beginnt an der Grenze Kaliforniens zu Mexiko und endet nach 4200 km in Kanada, habe ich mit meinem Zelt allein in der Wildnis geschlafen, ohne überhaupt etwas abschließen zu können. Aber dort haben sich auch nur Bären und Bergpumas eine gute Nacht gewünscht.
Tag 7
Ich habe ein kleines gelbes Tagebuch mit auf dem Jakobsweg. Zwei Seiten für jeden Tag, mit Spalten für die Distanz, die Startzeit usw. Es gibt aber auch eine Spalte, da steht: Dafür bin ich heute dankbar …. Ich bin heute dankbar für meine Begegnung mit Kieran aus Irland. Ein großer Wanderer, mit großen Erwartungen. Mit mir betrachtet er die verschiedenen Landschaften seines Lebens und stellt fest, dass er nichts braucht außer seinen Rucksack, einen Weg und Eingebungen. Vor ein paar Tagen hat er ein Mädchen getroffen, sie hat ihn eingeladen im Sommer mit ihm in Malaga auf einer Farm zu arbeiten. Es braucht auch Angebote, denke ich. Kieran verabschiedet sich in Logrono. Ich denke die letzten 12 Kilometer bis nach Navarette an Kieran und an sein weniges Gepäck. Als ich jung war, ging es nach dem Studium sofort um die erste eigene Wohnung, die musste eingerichtet werden, dann kam das Auto, der Computer, der große Fernseher. Kieran hat gelächelt, als ich ihm davon erzählte. Ich mag, wie Kieran denkt. Und ich stelle mein Handeln in seinem Alter nicht in Frage. Okay, ein paar Handtaschen weniger hätten es sein können. Ich weiß aber auch, dass ich Kieran weniger verstanden hätte, wenn ich nicht selbst mit dem Rucksack losgezogen wäre. Nach meiner langen Wanderung auf dem PCT habe ich mein Auto verkauft, bin Vegetarierin geworden und habe nie wieder eine Handtasche geshoppt.
Tag 8
Der Tag beginnt tatsächlich um 4:30 Uhr, obwohl es in Navarette im Hostel A La Sombra Del Laurel wirklich nett ist und ich tatsächlich wieder der einzige Gast bin.

Ostern wird es voll, sagt die Chefin. Und so langsam gehen auch die Schulklassen los.
Gehört. Erlebt. Eine Schulklasse aus einer kleinen Stadt in Andalusien ist heute bis Santo Domingo de la Calzada mein Begleiter. Die Jungen immer vorne weg, die Mädchen folgen. Sie haben eine Box dabei und hören laut Alvaro Soler. Der ist heiss, sagen sie, als ich sie frage. Den Weg finden sie jetzt nicht so spannend, aber immerhin ist das Wetter gut. Und es sind nur drei Tage. Bereitwillig lassen sie sich von mir fotografieren.

Ihre nächste Klassenfahrt geht nach Bamberg. Der berühmte Dom, frage ich. Sie nicken. Ich erzähle ihnen, dass man in Bamberg eine Bierwanderung machen kann, nur ein kurzer Weg, der an 9 berühmte Brauereien vorbeiführt. Natürlich kehren die Wanderer, die mehr Bierfans sind, in alle ein. Die jungen Leute lachen. Wir klatschen uns ab und weiter geht es, mit Alvaro Soler und seinem Song ‚Loca‘. Irgendjemand macht irgendwen verrückt. Mein Handy klingelt. Eine spanische Nummer. Ich gehe ran und verstehe kein Wort. Was ist passiert.
so lieb ich gebe eure positiven umarmungen an alle pilger weiter
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Liebe Jacie, meine Cousine ist ein großer Fan von dir, du schreibst sooooo schön.
Hier ist die Cousine. Ich folge dein Blog schon für ganz paar Jahre und bin immer so begeistert.
Viel Spaß für die weitere Zeit auf dem Camino.
Liebe Grüße und du bist in unseren Augen eine ganz Große, wir bewundern dich. Monika und Christina
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es geht auch vieles nur, weil ich an euch denke❤️❤️❤️
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So viel, was mit uns zu tun hat. Käffchen am Morgen, Rotwei am Abend, Alvaro u.u.u. – es fühlt sich an, als ob Du neben mir sitzt. Meine Bewunderung ist riesig!
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Wow – es kommen unendlich viele Bilder hoch. Wie herrlich! Die Paderborner Herberge erinnere ich bestens. 2016 wurde man dort mit Klassik geweckt. Scheint als sei dieser Brauch beendet?
Und die Begegnungen, die dünne Haut und die Erkenntnis des wenig Brauchens erzeugt auch sofort ein bekanntes Echo. Ich freue mich so sehr auf den Herbst. Werde in Pamplona starten – Tag 1 samt Pyrenäen war 2016 ein Highlight, aber auch wahnsinnig anstrengend. Das schenke ich mir diesmal. Been there, done that. Dafür möchte ich diesmal bis Muxia.
Dir weiterhin Buen Camino und dass die Erkältung schnell verschwindet
Audrey
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ja danke sehr anstrengend leider bekomme ich gerade eine erkältung
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Die Muschel steht deinem Rucksack super!
Bin schon gespannt wie es weiter geht! 😍😍
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