Im Zug neben mir sitzt ein Hund. Ein guter Reisebegleiter. An einem Gespräch ist er nicht interessiert. Antworten fiele mir auch schwer. Ich bin seit 14 Stunden mit dem Zug Richtung Jakobsweg unterwegs. Die französischen Bahnarbeiter streiken, Halte fallen einfach weg, ich muss ständig umsteigen und schaffe es nicht nach St.-Jean-Pied-de-Port, Startort des Camino Frances, nahe der spanischen Grenze. Das Internet hilft, in Bayon gibt es ein Hotelzimmer für mich. Es teilt mir aber auch mit, dass weiter gestreikt wird. Angeblich soll früh um 6 ein Bus fahren.
Am Morgen stehe ich bereits um 5:30 Uhr am Bahnhof, mit mir Pilger aus Amerika, Korea und Argentinien. Wir klatschen Beifall bei der Ankunft des Buses und erhalten gemeinsam zwei Stunden später unseren Pilgerpass mit dem ersten Stempel in den Händen. Im Pilgerbüro soll man ankreuzen, warum man den Camino gehen möchte. Bin ich eine Pilgerin? Pilger sind Suchende, die sich auf den Weg machen, um mit ihrem Gott in Verbindung zu treten. Ich denke, Pilger sind alle, die den Weg als Ziel sehen, sich mit diesem verbinden, für Körper und Geist etwas erzeugen, was sich innere Ruhe nennt. Den Alltag auf Wartestellung setzen, das will ich machen. Ich bin eine Pilgerin. Und eine Wanderin.
Tag 1
Die erste Etappe nach Roncevalles wird eine Strassenschlacht. Die spanische Polizei hat den Pfad zum Ibaneta-Pass, den schon Karl der Grosse im Jahre 778 passierte, gesperrt. So bleibt nur die Straße, stetig bergauf, ab und an geht man einen Schlenker in den Wald. Ich bin frustriert. Der Straßenbelag ist eine Herausforderung für Knöchel, Knie und die zugelegten Corona-Kilos. Ich spüre den Rucksack, ich schnaufe, ich denke an all die Tage, wo ich laufen wollte und doch liegengeblieben bin. Aber ich bin mit meinen Sorgen nicht allein. Auf dem Weg liegt Pedro aus Peru, der nicht mehr kann, der nur noch schlafen will. Minutenlang verharren wir stumm nebeneinander. Dann gehe ich weiter und Pedro folgt mir. Wir passieren kleine Dörfer, grasende Pferde und Schweine, die sich ein Spassbad gebaut haben und es im Schlamm krachen lassen. Ganz ohne Eintritt. Ausserdem gibt es viele Kuhherden. Es riecht wie früher bei mir auf dem Dorf. Da habe ich im Kuhstall gearbeitet, mich in unseren Tierarzt Dr. Herrklotsch verliebt. Ich wollte immer einen Tierarzt heiraten, es wurde ein Sportreporter.

Nach 15 Stunden und 24 Kilometer bergauf komme ich in Roncevalles an. Die Pilgerherberge der katholischen Kirche hat Platz für 160 Pilger, alles ist modern, mit Schließfächern, vielen Duschen, Waschmaschinen und einer großen Küche. Und natürlich wird zur Abendmesse geladen. Ich entscheide mich für ein Glas Rotwein. Jesus Christus soll beim Mahl mit seinem Jüngern am Abend vor seinem Tod Wein und Brot geteilt haben, als bleibendes Zeichen seiner Gegenwart in der Gemeinde.
Ich teile mein kleines 4-Betten-Reich im großen Saal mit Pedro, der es auch geschafft hat und mit James aus Bristol. Kurz vor dem Einschlafen möchte ich von ihm wissen, was die Engländer über Harry und Meghan denken. James muss lachen. ‚Wir leben mit der königlichen Familie. Wir denken nicht über sie nach.‘
Tag 2
Der Tag beginnt um 6. Länger schlafen funktioniert auch nicht, es wird geflüstert, geraschelt, gepackt. Ich starte mit dem ersten Sonnenstrahl und freue mich über Wege fern der Straße. Es geht durch duftende Wälder, an Wiesen vorbei, der Frühling hat hier bereits Einzug gehalten, Apfelbäume blühen, Kirschblüten fliegen auf dem Pilgerweg umher. Nach 5 km liegt ein kleines Dorf auf dem Pfad. Ein alter Mann winkt mit seinem Krückstock, sagt ‚Buen Camino‘ und zeigt auf einen Platz. Wir entdecken Tische und Stühle und was noch viel besser ist: einen Kaffeeautomaten. Einfach herrlich. Mit mir am Tisch schlürft Jeremy seinen Kaffee. Ich gebe ihm meinen Kugelschreiber, damit er seinen Zucker im Pappbecher verteilen kann. Jeremy ist Rentner und erfüllt sich mit dem Camino Frances einen Traum. Mit strahlenden Augen erzählt der Brite davon und von seiner Tochter, die demnächst in Tokio Regie studieren wird. Eigentlich wollte sie in Amerika studieren. Aber die Homeland Security liess Jeremys Tochter nicht ins Land. Sie ist nicht geimpft. ‚Wir haben alles versucht. Aber man hat meine Tochter nicht reingelassen, wie Tennisstar Djokovic auch nicht‘ sagt er. Und: ‚Fuck USA.‘

Eine Stunde später beginnt es zu regnen. Ich ziehe meine Regensachen an. Nun ist es lauter. Die Tropfen prasseln auf die schützende Kleidung. In Viscaret flüchten die Pilger in eine kleine Bar. Maria, die Barchefin, ist schnell. In wenigen Minuten verkauft sie sehr viele heisse Getränke und mit Rührei belegte riesige Sandwiches. Ich freue mich über einen Kaffee und geniesse das lustige Stimmengewirr aus unzähligen Sprachen. Neben mir sitzt Juanita aus Brasilien. Wegen der Liebe ist sie nach Berlin gezogen und lebt in Charlottenberg. Nun hat sie aber ihren Job bei Zalando gekündigt und wandert erstmal.
Trotz Regen ziehe ich weiter, gehe langsam, es sind heute 26 Kilometer, nicht wenig für den zweiten Tag. Nach dem Regen klingt der Wald anders. Tropfenmusik ringsum, unter den Fußsohlen quietschende Blätter, das Moos gibt glucksende Geräusche von sich. Mich überholen drei singende Amerikanerinnen. Regina aus Florida, Melissa von Hawaii und Britney aus Kansas. Sie sind gut gelaunt, sie singen das schöne Wetter herbei, sagen sie. Und sie sind schnell, denn sie haben die erste schwierige Etappe ausgelassen. Hike your own Hike, sagen sie.
In Zubiri leiste ich mit ein Sandwich, ein paar Brocken gebe ich einer Katze ab, sie schnurrt.
Ich fühle mich gut und beschliesse weitere 5 Kilometer zu pilgern. Die Sonne zeigt sich. Mein Etappenziel Larrasoana leuchtet unter dieser. In einer kleinen Herberge bekomme ich ein Bett, eine heiße Dusche und im Shop nebenan eine Cola. Der Besitzer spricht etwas Deutsch und lädt mich auf einen Rotwein im Plastikbecher ein. ‚Du bist mein Augenstern‘ sagt er. Vielleicht weil er ohne mich hier allein sitzen würde. Sergio erzählt, dass sein Bruder in Deutschland wohnt. Er schiebt dort eine ruhige Kugel, sagt er. Ich staune über den Einsatz der deutschen Redewendung. Frage aber nach und will wissen, was er damit meint. Er lebt von der Sozialhilfe
Tag 3
Die Nacht war nicht gut. Meine Bettnachbarin hat die ganze Nacht die Nase hochgezogen, geschnieft und gehustet. Aber ich habe nichts gesagt. Ich schnarche.
Bei 2 Grad starte ich gen Pamplona. Die Stadt kenne ich nur durch den Roman ‚Fiesta‘ von Ernest Hemingway. Ernest liebte Pamplona. Die Stadtführer hier sagen er liebte die Stiere, die Frauen und den Wein. Eine lebensgrosse Statue des Romancier steht im Cafe Iruna. Bestellt man an der Bar einen Cognac ist es, als würde man mit Ernest auf die Tapferkeit der Stierkämpfer trinken.

Der Weg nach Pamplona ist gut zu mit, ich liebe das Gehen bei Kälte mit Sonne. Ich bin ganz allein, höre meine Schritte und meinen Atem. Im Kopf kaum Gedanken, die gedrückte Stopp-Taste funktioniert. In Arre trinke ich einen Kaffee mit einer Holländerin. Sie sieht glücklich aus. ‚Ich bin glücklich‘, erzählt Isabelle. ‚ Ich wollte unbedingt allein los. Daheim kümmert sich mein Mann um unseren 11jährigen Sohn. Irgendwie war ich so leer und hatte das Gefühl, meinen Körper mit frischer Luft füllen zu müssen. Ich leiste mir hier immer Hotels, heute soll es sogar eine Massage sein. Und bitte verstehe, dass ich nun allein weiterziehe.‘ Ich sage ihr, dass dies ihr Weg ist, jeder hinterlässt auf seine Weise Fusspuren auf dem uralten Pilgerweg. Es geht nicht darum, dass man hier teilt, es geht darum, dass man für sich das bekommt, was man sucht. Wir nicken uns zu, wir umarmen uns. Ich gehe allein weiter und denke: Fussmassage klingt wirklich gut.
Pamplona ist voller Menschen, die ein Maskenfestival feiern. Es ist erst 12 Uhr und alle Bars sind voller Einwohner, mit Weingläsern in den Händen. Nur kurz schaue ich mir das bunte Treiben an, dann gehe ich zur Casa Paderborn. Paderborn ist die Partnerstadt von Pamplona. Seit 2005 gibt es hier ein deutsches Pilgerhaus. Vereinsmitglieder sind von März bis Oktober freiwillig für die Pilger aus aller Welt da. Heute haben Elke und Hilde Dienst. Die Damen sind etwas aufgeregt. Das Internet funktioniert nicht, aber jeder Pilger, der im Haus übernachtet, wird via App registriert. Doch gleich nach mir kommt Fabio aus Brasilien an. Er kann helfen und die spanischen Anweisungen übersetzen. Am Nachmittag sind alle 26 Betten belegt. Und immer wieder kommen Wanderer an. Hilde und Elke müssen sie leider wegschicken. Den Damen fällt das schwer. Am Abend sitzen wir zusammen und reden. Ihr Tag ist lang. Um 5 stehen sie auf, um 6 gibt es für alle, die es wollen, ein Frühstück für nur 3,50 Euro. Dies bereiten sie zu, dann räumen sie auf und bereiten alles für die neuen Pilger vor. Die kleinen Zimmer sind freundlich und sauber, der Aufenthaltsraum gemütlich. Draussen sitzt man an einem kleinen Fluss, umringt von Wäscheständern. Um den Garten kümmern sich die beiden auch. Sie lieben ihren Job, kommen jedes Jahr her, für mindestens drei Wochen, unentgeldlich. Einfach haben sie es nicht immer. Immer öfter müssen sie am Tag die Tür abschliessen, um das Eigentum der Hiker zu schützen. Ich bewundere Hilde und Elke, sie sind für uns Pilger da, geben uns ein Zuhause. Dies ist nicht selbstverständlich.
Es ist noch fast hell, als mir die Augen zufallen. Da klopft es an die Tür. Gregory aus Minnesota! Was ist los?
so lieb, grüsse an die cousine und das beste nach down under
LikeLike
Hallo meine Liebe, hier ist Monika aus Berlin, ich bin gerade in Sydney Australien und meine Cousine erzählt mir das du wieder wanderst. Sie verfolgt das immer seit deinem PCT. Da muss ich so weit reisen um von dir zu lesen. Also Good luck M
LikeGefällt 1 Person
In Gedanken pilgere ich mit. Es ist wie immer herrlich, Jac!
LikeLike
so lieb danke
LikeLike
Du Poetin! Man es alles vor den eigenen Augen.
LikeGefällt 1 Person
Mehr davon!
Fühl dich gedrückt
LikeLike
haha – ich liebs!!!!! dicke umarmung
LikeLike
Ich liebs! Wie jedes Mal, bin ich auch diesmal wieder sehr froh, dass ich gedanklich wieder ein paar Meter mit dir auf deinen Wegen gehen kann und freue mich über jedes Update!
Halt durch!
LikeGefällt 1 Person
Danke für die wunderschöne Beschreibung, bin den Weg letztes Jahr im Mai gelaufen, du bringst mir die Bilder wieder hoch. Sind nur bis Puente la Reina und werden im August von dort zum Küstenweg gehen und dann bis Finistere. Sind seit 2004 immer in Etappen unterwegs, von daheim . Kennst du das Pilgerlied Ultrea? Weiterhin Buen Camino, freu mich auf weitere Berichte!
LikeGefällt 1 Person