Endlich bin ich mal wieder wandernd unterwegs. Es wurde Zeit, loszugehen. Auf dem PCT war ich vor fünf Jahren, vor vier Jahren auf dem Forststeig und anderen deutschen Wanderwegen, vor drei Jahren auf dem Kilimanjaro. Danach überquerte ich erfolgreich die Alpen. Dann kam Corona. Nur Homeoffice und Berlin. Viele Stunden im Sitzen. Viel zu viele Kilos am Körper. Viele alte Muster in den Alltag gelassen. Nun wandere ich und frage mich, wie konntest Du nur so faul werden? Und denke an den Jakobsweg, den will ich noch machen und denke an den CDT, der noch länger als der PCT ist. Doch jetzt klingelt erstmal der Wecker im Harzresort im Torfhaus. Kurz nach 6 beginnt der zweite Morgen mit meiner Schwester auf dem Harzer Hexenstieg. Viel machen meine Schwester und ich so früh und bevor es überhaupt hell wird, nicht. Wir packen, teilen uns die letzte alte Stulle, lassen uns an der Rezeption Tee kochen. Das Frühstück verpassen wir auch hier. Wir sind einfach zu zeitig dran.

Wir starten in tiefhängenden Wolken, kalt ist es aber nicht. Bisher auch kein Regen auf dem Weg. Klar, wir haben Ponchos dabei – aber hier im Harz gehst du keine 32 km im Regen, wenn ab und an eine Bushaltestelle auftaucht. Auf dem PCT war das anders – da gab es weder Schutzhütten noch Bushaltestellen noch Hotels. Und bei Regen oder Schnee hätte man in der Wildnis auch nicht so einfach „aufhören“ können. Da wünschte man sich Brücken über all die vollen wilden Flüsse.
Vom Torfhaus aus gehen wir die ersten Kilometer durch einen schönen, jungen Tannenwald. Das ist der Märchenweg bis zum Oderteich. Holzbohlen sind über Moorstellen gelegt, alles wirkt sehr frisch und friedlich. Der Abschnitt gefällt uns. Hier hat sich der Harz sichtlich erholt, das Konzept „Der Wald erholt sich selbst“ kann aufgehen. Wir passieren die Ostseite des Oderteiches, er ist gut mit Wasser gefüllt. Der Oderteich war über 170 Jahre lang die größte Talsperre Deutschlands.
Immer wieder sehen wir kleine Flüsse, Fälle und die Gräben der Harzer Wasserwirtschaft. Stunden wandern wir, Stunden allein. Wir reden kaum. Ab und an fragt meine Schwester: „Sind wir noch richtig?“ Dann schaue ich auf die geplante Strecke in der KOMOOT-App. Ganz hilfreich, denn wir übersehen auch Abbiegungen. „Oh nein, Mist! Wir müssen zurück!“ Da wir heute nicht über den Brocken gehen, sondern die Brockenumgehung wandern, ist die Ausschilderung nicht immer eindeutig.
Nach drei Stunden bekommen wir langsam Hunger. Wir teilen uns einen Riegel, einen CLIF BAR. Ich erzähle meiner Schwester die Story des Riegels. Erfinder Gary, der viel mit seinem Vater in den Bergen der Sierra Nevada in Amerika kletterte, wanderte oder Ski fuhr, hatte während einer langen Radtour 1990 die zähen Astronautenriegel satt und beschließt, selbst Riegel zu produzieren. Voller Energie und Geschmack. Er probiert lange in der Küche seiner Mama, bis CLIF BAR entsteht, benannt nach seinem Vater. Heute noch immer ein Privatunternehmen, mit sehr interessanten grünen und sozialen Richtlinien. Wenn ich jung wäre, würde ich gern bei CLIF BAR oder bei PATAGONIA arbeiten.
Gegen Mittag erreichen wir die Gegend von Braunlage und können es kaum fassen, direkt auf unserem Weg gibt es ein offenes Gasthaus. Die Waldgaststätte Rinderstall. Gutbürgerliche Küche (viel Fleisch) in einer autofreien Zone. Die Kellnerin ist freundlich: „Ihr Lieben, ich bin gleich bei Euch, ist gerade etwas voll.“ Kommunikation ist alles – wir packen unsere Karten aus und warten entspannt auf Linsensuppe und Ofenkartoffel.
Der Rinderstall ist auch ein Standort für die HARZER WANDERNADEL – ein kleiner Kasten mit Stempel und Stempelkissen. Fleißige Wanderer durchkämmen den Harz und sammeln überall ihre Stempel. Wir Schwestern haben unsere Handoberflächen die letzten beiden Tage gestempelt. Wer alle 222 Stempel gesammelt hat, darf sich Harzer Wanderkaiser nennen.
Gestärkt verlassen wir die Gegend um St. Andreasberg und Braunlage. Ich mag es, dass man beim Wandern eine Region Zentimeter für Zentimeter erkundet und dadurch Interessantes, Historisches, Krasses erfährt. Als ich mit Freunden im Saale-Unstrut-Gebiet wanderte, lernte ich die unfassbare Geschichte der Himmelsscheibe von Nebra kennen. Das Artefakt ist 4000 Jahre alt, stammt aus der Bronzezeit und gilt als die älteste bisher bekannte Himmelsdarstellung. Ein Wunder, von dem ich noch nie gehört hatte. Und jetzt erfuhr ich, dass es in dieser Gegend durch die geringe Bevölkerungsdichte einen fast dunklen Nachthimmel gibt, wodurch man einen natürlichen Blick auf die Milchstraße werfen kann …

Die Milchstraße sehen wir an unserem 3. Wandertag auf dem Harzer Hexenstieg nicht, auch keine weiteren Wanderer, dafür viele Holzstapel und nach 32 km endlich unsere Pension Eli Lenti in Elend. Eine 420-Seelen-Gemeinde, im Osten an der einst innerdeutschen Grenze gelegen, auch ein Schauplatz tragisch endender Fluchtversuche. Die Pension ist verwaist, keine Gastronomie, der Schlüssel für unser Zimmer liegt in einem Safe. Wir wundern uns nicht mehr. Unser Zimmer ist hell und warm. Doch wir bleiben noch in unseren Wanderklamotten und gehen auf einen Wein. Mehr ist um 19 Uhr nicht möglich. Obwohl aus Elend der Harzer Verkaufsschlager „Kukkis Erbsensuppe“ stammt. Jürgen Kurkiewicz, genannt Kukki, gehörte in der DDR der NVA an. Nach der Wende bekam er eine ausgediente Gulaschkanone geschenkt. Zuerst wusste er nicht so richtig, was er mit dieser machen sollte. Bis er seine erste Erbsensuppe darin kochte und diese zum Verkaufsschlager und er zum Harzer Erbsenkönig wurde.
Das Hotel Waldmühle in Elend, direkt am Abgang Hexenstieg, hat offen und Wein für uns. Schnitzel und Pommes wären auch möglich. Wir stoßen auf unseren erfolgreichen Tag an und begeben uns auf eine Zeitreise, als würden wir mit den Eltern in unserem Heimaort Seefeld in Rudis Fischerhütte sitzen und Eisbein essen. Wir erinnern uns. Das habe ich beim Wandern schon öfter erlebt. Auf einem kleinen Pfad in der Natur ploppen Erinnerungen auf, sucht man nach dem, was fehlt, denkt man über die Zukunft nach, denkt man freier. Und am Ende des Tages genießt man wie ein großes Geschenk die heiße Dusche.

Am 4. Tag auf dem Harzer Hexenstieg stehen wir um 6 auf. Im Zimmer gibt es einen Wasserkocher. Wir machen uns Kaffee, kochen Tee für unterwegs und teilen uns den letzten Riegel. Als wir starten hat es höchstens vier Grad, meine Schwester zieht Handschuhe an. Elend liegt im Nebel, unser Wanderweg auch. Wir laufen fleißig unsere Kilometer und hoffen auf Sonne schon am Vormittag. Die lässt auch nicht lange auf sich warten. Wir grüßen fleißige Holzarbeiter. Wanderer sehen wir nicht. Bis zum Mittag machen wir nur eine kurze Pause. Denn heute wandern wir unsere Königsetappe. 38 km. Diese vielen Kilometer mal so am 4. Wandertag aus Hüfte und Beine zu schütteln, ist schon eine Glanzleistung.

In den Auenlandschaft der Bode, an einem Teich, der zu Susenburg gehört, schmeißen wir unsere Kocher an. Unsere Ramen Bowl schmeckt heute noch besser. Kein Wunder, wir haben wirklich Hunger. Und noch mehr als 22 km liegen vor uns. Wir löffeln, wir schmatzen und hören eine Säge. Das Geräusch stört uns nicht. Nur 30 Minuten Pause. Keine Zeit zum Aufregen. Ab und an macht es auch laut PLATSCH. Fische springen. Es muss genügend geben. Auf einem Schild steht: Graskarpfen. Die Region wirbt mit Anglerfesten.
Gestärkt folgen wir dem Lauf der Bode, ignorieren erste Schmerzen. Mein Schwester geht voran, unermüdlich. Ich folge. Durch Rübeland. Durch Neuwerk, ein 600 Jahre altes Bergdörfchen, es liegt schön, vom Harz umringt, abgeschieden und direkt auf dem Hexenstieg. Im Juli kürt man hier die Graskönigin. Das wäre was für mich. Ich bin nicht treffsicher.
Weiter geht’s. Die Bode immer in der Nähe. Wir sind allein und hören Schreie. Kein Resultat, weil Wanderer vielleicht Wölfe entdecken. Adrenalin-Junkies jagen angekettet an Europas längster Doppelseilrutsche in 120 Meter Höhe und 1 km lang über die Rappbodetalsperre. Auch wenn ich jetzt gern über den Hexenstieg fliegen würde, selbst ein alter Besen würde mich nicht in die Lüfte locken. Ich kollabiere schon, wenn ich zwei Sekunden in einer Achterbahn sitze.
Gegen 18 Uhr haben wir noch noch fast 7 km bis Altenbrack. Und langsam wird es dunkel. Also einen Gang höher geschaltet. Wir staunen, dass dies geht. Doch der Anruf in unserem Hotel beflügelt uns: „Wir warten auf sie. Wir haben Wein und Essen.“

„Mit dem letzten Büchsenlicht geschafft! BÄM!“, sagt meine Schwester vor dem Hotel „Zum weißen Ross“. Wir klatschen uns ab, sichtlich fertig und bereit für eine eiskalte Belohnung. Wirt und Wirtin sind keine Einheimische, wir schätzen Italiener, sie spendieren Cappuccinos, bevor wir unsere gebuchte Übernachtung beziehen. Sie besteht aus zwei Räumen, meine Schwester strahlt und freut sich über eine schnarch-freie Zone. (Übrigens, ich auch!!!) Dann gehen wir noch immer stinkend in den Gastraum, bestellen Wein und gebackenen Camembert! Ein Gast spricht uns an. Er hat uns heute an der Königshütter Talsperre überholt und wundert sich nun, woher wir jetzt kommen. Wir sind ein wenig anders gegangen als er, worauf uns unterwegs auch ein älterer Herr hinwies: „Ihr seid nicht auf dem Hexenstieg. Ich habe diesen in den letzten 30 Jahren gepflegt.“ Wir: „Der Hexenstieg bietet viele Varianten.“ Der Hexenstieg-Pfleger: „Nein. Seien sie doch nicht so störrisch und oberschlau. Das stimmt nicht.“ Wir: „Viele Wege führen nach Rom.“ Er findet uns nicht lustig.
Auf jeden Fall will der Wanderer im „Weißen Ross“ alles über unser Equipment wissen. Dass wir alles dabeihaben und dann auch noch kochen, kann er sich nicht vorstellen. Ich könnte nun Stunden über Outdoor-Utensilien reden, aber meiner Schwester und ich wollen unseren Wein genießen und in Ruhe gemeinsam uns über unsere großartige Wanderleistung wundern.
Am nächsten Morgen schlafen wir bis um 8 durch, herrlich. Wir packen und genießen in einem alten Glasvorbau, der heimelig ist, unser Frühstück. Warme Brötchen, heißer Kaffee. Einfach herrlich. Ich könnte mir vorstellen, dass Gäste hier Rührei oder Lachs oder 8 Käsesorten und eine neue Tapete vermissen. Wir lieben es – spartanisch und ausreichend für fleißige Wanderer.
Um 9 ziehen wir Richtung Thale los. Unser letzter Tag auf dem Hexenstieg. 17 km. Heute soll der schönste Streckenabschnitt vor uns liegen. Das Bodetal. Der schluchtartige Talabschnitt der Bode zwischen Treseburg und Thale. Die Region wirbt mit diesem Naturwunder. Doch schaut man genauer hin, ist der „schönste Abschnitt“ fast nie offiziell zugänglich. Murenabgänge sorgen dafür – dass sind Ströme aus Schlamm und gröberen Gesteinsmaterial, die in ein Tal abgehen, meist werden auch Bäume mitgerissen. Meine Schwester und ich stehen in Treseburg vor einer Absperrung und überlegen, was wir machen. Doch ein Ehepaar streift uns und klettert an der Absperrung vorbei auf den Stieg. Die Frau dreht sich um:“ Kein Problem. Wir waren vor drei Tagen bereits hier. Forstarbeiter haben die Bäume weggeräumt, nur an ein paar Stellen gibt es Geröll. Da kommen sie leicht rüber.“
Wir überlegen weiter. Als ich auf dem PCT war, habe ich hier einen Eintrag über Gefahren in der Wildnis geschrieben (https://mama-wandert.com/2017/06/07/tag-53-tag-58-von-bucks-lake-nach-old-station-km-1123-km-1267-pct-meile-1261-meile-1371-allein-in-der-wildnis/) und bin für Regeln. Aber im Harz? Wir diskutieren, schauen auf die App und folgen dem Ehepaar. Wir meistern die 10 km ohne Probleme, wie andere auch. An vier Stellen gehen wir langsam über Geröll. Kurz vorm Ende des schönen Schluchtweges treffen wir einen Einheimischen, er ist Historiker und weit über 70. „Nichts für Euch, Prinzessinnen“ sagt er. Dann reden wir über den Zustand des Weges. Und der Mann beginnt zu schimpfen. Weil hier keiner anpackt und den Weg aufräumt. Er mache dies ständig. Er versteht nicht, warum die Einwohner hier nicht einfach mal einen Tag gemeinsam den Weg „heilen“, für die Region, für die Wanderer. Die Stubenhocker vom Forstbetrieb stellen Sperrungen auf und fertig, sagt er. Wir spüren, dass der Herr wirklich sauer ist. Dass alle hier mal gemeinsam anpacken, gefällt mir. In der Wildnis auf dem PCT haben wir oft Volontäre beim Aufräumen mitten in der Wildnis getroffen, die wurden dann immer gegrüßt und umarmt.
Kaum verlassen wir das Bodetal, treffen wir Tagestouristen, laute Familien, Radfahrer. Thale ist voll, auch der Spaßpark und die Gondeln, die rauf zum berühmten Hexentanzplatz fahren. Also schnell zum Zug. Rückfahrt und nochmal die Landschaft genießen und die ruhigen Tage mit insgesamt 132 gewanderten Kilometern als Highlight unter Schwestern, als guter Gedanke für einen vollen Arbeitstag, als kleinen Meilenstein für eine weitere Wanderung konservieren. Und sich freuen und wundern. Schwesterherz, du bist eine Wanderin!!!!

Die Schneedecke muss noch ein wenig wachsen, bevor ich meine Ski benutzen kann… Bislang stiefel ich einfach in gefuetterten Gummistiefeln umher, das geht auch. 🙂
Ich fiebere schon deinem CTD Abenteuer entgegen. Was fuer ein Mammutprojekt!
Tatsaechlich kamen deine Sonnenstrahlen gestern an und die Sonne hat den Schnee noch zauberhafter aussehen lassen.
Dann versuche ich dir jetzt liebe Menschen und Laecheln nach Deutschland zu schicken – vielleicht klappt’s ja! 🙂
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Ja, wir finden einen Weg. Cliff Bar – bester, nur leider gibt es hier bei uns nicht so viele Sorten, auf dem PCT waren die meine Retter, vor allem weil sich ständig mein Essverhalten veränderte- Ich drücke Dich, Jac
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Wunderschön geschrieben! Ich will auch wieder! Und Cliff Bar ist mein Lieblingsriegel 😂
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Luisa, schön, von Dir zu hören. Und wieder ist Deine Welt durch den Schnee noch stiller und irgendwie noch weiter weg. Der Oktober ist weiterhin sommerlich – immer wieder Temperaturen um 17 und 18 Grad. Ja, der harz war schön, ich habe an Dich gedacht und beim Wandern meiner Schwester von Dir erzählt. Es war kurz aber wirklich wie eine ausgedehnte, entspannte und schöne Yoga-Übung. Also bald muss es wieder losgehen. Und Du bist schon mit Skiern unterwegs? Ich hoffe es geht Dir und den Liebsten gut, ich schicke Sonnenstrahlen, siehst Du sie über Deinem Tiny Haus? Jac
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Grossartig, Jac!
Danke, dass du meinen lieben Harz so schoen beschrieben hast. Hier fing meine Liebe zum Wandern an. 🙂
Viele Gruesse aus dem schneebedeckten Yukon,
Luisa
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Juchuuuu. …. ich b
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