Wenn man irgendeine deutsche Warn-App hat, erschien auf dieser am Wochenende nach Fronleichnam eine Warnung. Dabei ging es um Hitzrekorde. Vor allem für Mitteldeutschland.
Da ich mich für ein Tenniswochenende in Halle (Westfalen) entscheide, landet in meinem Reisegepäck auch eine große volle Trinkflasche. Eine gute Entscheidung. Im ICE von Berlin nach Bielefeld ist ein Durchkommen zum Speisewagen nicht möglich. Und in der 2. Klasse bietet das laufende Zugpersonal nur Heißes an. Immer ist das so. Man kann es leider so sicher einplanen, wie zurzeit Verspätungen. Genervt davon sind nicht nur die Fahrgäste. Auch der Chef des ICE. „Wir haben schon wieder Verspätung … es ist leider so, es geht nicht voran …leider warten wir auf einen Gegenzug …und wieder kommen neue Minuten auf die bisherige Verspätung.“ Coaching scheint bei der Deutschen Bahn noch nicht angekommen zu sein. Wie bleibe ich freundlich? Wie verpacke ich nicht so gute Nachrichten positiv? Und darf ein Zugschaffner lustig sein?
Ich lasse mir meine gute Laune nicht nehmen, stricke, schaue eine runtergeladene Serie auf dem iPad und freue mich auf die Stunden in der OWL-Arena in Halle. An diese Sportstätte habe ich gute Erinnerungen.

Als der grüne Ring, ein wenig Wimbledon nachempfunden, noch Gerry-Weber-Stadion hieß, boxte hier im Oktober 1994 Henry Maske – und ich drehte damals ein Porträt über den großen deutschen Boxer für RTL. Selten habe ich mich so exklusiv bewegt – selbst in den Ring durfte ich. Krasse Zeit. Danke Henry!

Nun sitze ich im Unterrang, in der 15. Reihe. Aber im Schatten. Als hätte ich beim Buchen die Hitzerekorde erahnt. Das Thermometer für den Center Court zeigt 32 Grad. Und die VIP-Tribüne liegt in der Sonne. Schaut man darauf, wird einen ganz schwindelig, denn die mit Champagner abgefüllten Gäste hängen sprichwörtlich in den Seilen und fächeln sich mit ihren Eintrittskarten unermüdlich heisse Lufte ins rote Gesicht.
Neben mit sitzt ein Vater mit seinem Sohn. Er will wissen, wie viele Gewinnsätze heute vonnöten sind. Auf unseren teuren Plätzen kann man den Stadionsprecher nicht verstehen, aber das Spiel sehr gut verfolgen, jeden Ball und Atmer der Stars hören. Das Publikum hier ist fair, feiert mehr oder weniger alles. Oskar Otte, der deutsche Underdog, Platz 51 der Weltrangliste, hat sich ins Halbfinale gekämpft und zeigt ein paar Wunderbälle gegen den Weltranglistenersten, Daniel Medvedev. Doch am Ende sind es ein paar zu wenig, die Nummer 1 zieht ins Finale. Um mich herum ist man sich einig, dass es mit Zverev anders geworden wäre. Doch der zurzeit beste Deutsche hat sich bei den French Open verletzt. Doch wegen Zverev ist die eine Hälfte hier. Und die andere wegen Roger Federer, die Karten sind zwei Jahre alt, denn sie wurden vor der Pandemie erworben. Man sieht sogar Shirts mit Federer-Sprüchen. Auch die Shirts sind zwei Jahre alt. Der große Meister und Held der grünen Arena von Halle, sogar die Straße zu dieser heißt Roger-Federer-Allee, ist verletzt und wird nicht nur hier vermisst.

Bei dem Angebot der Buden um die Arena herum, merke ich, dass ich in einer anderen Region bin – riesige Metwurststullen, Salamibemmen, Landschinken-Körbe, Nudeln mit Fleisch, Bürger und Hotdogs sind käuflich zu erwerben. Irgendwann finde ich einen Stand, der Honig-Soja-Nudeln mit Gemüse anbietet. Wen wunderts, der einzige Wagen ohne Schlange. Ich freue mich. Der Besitzer bei dieser Nachfrage sicher nicht. Mir gefällt, dass wie bei einem NBA-Spiel in den USA die Besucher ihr Essen und ihre Getränke mit zum Platz nehmen dürfen. Es ist irgendwie familärer so und ein Match kann auch lange gehen. Das längste gab es mal in Wimbledon – 11 Stunden…
Nach dem Match leeren sich die riesigen Parkplätze an der Arena und füllt sich der einzige Bahnsteig an dieser zügig.
9-Euro-Tickett. Also warum nicht die Bahn nach Bielefeld oder Osnabrück nehmen? Wenn sie denn fahren würde, die Nordwestbahn, eine Strecke, also ein Gleis, immer hin und her. Verspätung wird angezeigt. Verspätung wird angesagt. 10 Minuten. 20 Minuten. 30 Minuten. Danach schweigt der Lautsprecher. Es springt nur noch regelmäßig die Minutenanzeige der Verspätung um. Nachdem 60 Minuten angezeigt werden, scheint Hermine zu zaubern – denn der Zug verschwindet. Nur, dass wir nicht auf dem Bahnsteig Neun Dreiviertel stehen und nach Hogwarts wollen. Der nächste Zug vom regulären Fahrplan erscheint – mit Verspätung! Zuerst wird lachend applaudiert, wenn neue Minuten auf die bereits bekannte Verspätung dazukommen, so als hätte der dafür bekannte australische Tennisspieler Nick Kyrgios einen Ball durch die Beine lässig abtropfen lassen. Doch langsam machen sich Frust und laute Fragen breit. „Kommen wir hier heute noch weg?“ Die einzige Berlinerin auf dem Bahnsteig, also ich, fragt: „Was ist mit Schienenersatzverkehr?“ Es wird gelacht. Die, die nach dem langen Tennis-Tag noch Saft auf ihrem Handy haben, googeln Alternativen. In einem Ort 5 km entfernt, soll ein Bus fahren. Ein paar junge Leute machen sich auf, sie bekommen Applaus von den Wartenden am vereinsamten Gleis, als hätten sie gerade den erst morgen zu erwartenden Ball zum ATP 500 – Sieg von Halle geschlagen. Andere versuchen es mit einem Taxiruf. In Halle sollen Taxis ansässig sein. Doch wie viele? Als ein Wagen vorfährt, rennen mehr als 20 Tennisfans dem erstaunten Fahrer entgegen. Warum wer am Ende mitfährt, erfahren wir Zuschauer vom Gleis nicht. Auf jeden Fall wird lange diskutiert. Ich denke die ganze Zeit, dass der Fahrer seine Kollegen anrufen wird, kommt zum OWL-Gleis, da ist heute Abend Kohle zu machen. Aber kein weiteres Taxi taucht auf.
Langsam legt sich die Sonne schlafen, der Horizont verfärbt sich dunkelrot zu schwarz, Wind kommt auf. Ein Frösteln geht durch die Menge. Viele sind nach den Hitzerekord-Meldungen sehr sommerlich angezogen und hatten keine Übernachtung auf einem Bahnsteig ohne Häuschen und mit nur sechs Sitzen eingeplant. Die Leute rücken zusammen. Und wie bei einer Lieblingsgeschichte meines Enkels Fritz werden wegen Kälte und Mangel an Essen und Wasser Geschichten erzählt. So macht es Frederick in der alten Steinmauer im Winter in der Familie der schwatzhaften Feldmäuse.
Eine Familie neben mir muss noch weiter als ich, noch in einen kleinen Ort hinter Bielefeld, mit dem Bus. Aber bei den günstigen Ticketts und den Spritpreisen, haben sie das Auto abgewählt. Für Tennis geben sie fast alles, erzählt der Vater. Die Tochter spielt und hat gerade in ihrer Altersklasse 16 bei den Mädchen in Hannover gewonnen. 45 Minuten hat sie es bis zum Training von ihrem Dorf, jeweils hin und zurück. Mehrmals in der Woche. Sie würde gern noch mehr trainieren, aber dies können sich die Eltern nicht leisten. Der Vater schimpft auf die deutsche Förderung und auf Barbara Rüttner. Die habe ich gerade im Podcast „Das Gelbe vom Ball“ gehört. Da ging es um den weiblichen Nachwuchs in Deutschland, wo Vielversprechendes nicht in Sicht ist.
Zwei Spanier googeln die deutsche Anzeigentafel. Ich helfe in Englisch aus. Sie studieren in Hannover und haben die spanischen Tennisspieler die letzten Tage angefeuert. Eine Polin neben mir verteilt Gummitiere. Weitere Snacks machen die Runde. Ich verborge meine Jeansjacke, ich friere nie, aber bin als erfahrene Wanderin immer vorbereitet. Habe noch ein Tuch mit, eine Mütze und Wasser. Schade, dass keiner eine Kerze mitführt. Oder eine Musikbox. Vielleicht würden wir tanzen und singen „Wir sind zusammen groß“.
Dann endlich, wie aus dem Nichts, löst sich Hermines Verschwinde-Zauber auf, und der RB 75 rollt ein. Es gibt sogar noch freie Plätze. Ich habe Glück. Bei nächsten Halt treffen wir unsere „Busfreunde“ wieder …. doch nicht alle schaffen es in den Zug. Ob nach uns noch einer kommen wird?
Fast vier Stunden später als geplant, lege ich mein müdes Haupt auf ein erstaunlich bequemes Hotelkissen.
Am Finaltag des ATP – Tuniers von Halle checke ich zuerst meine Bahn-App. Noch immer steht da: Es gibt ein Weichenproblem auf der Strecke Bielfeld – Osnabrück. Dieses wird erst am Montag behoben. Alle Züge erscheinen mit roten Zeiten oder entfallen.
Ich entscheide mich für meine Taxi-App und lerne Barbara kennen. Die kommt eigentlich aus Stuttgart, fährt nun aber leidenschaftlich gern Taxi in Bielefeld und Umgebung. Und sie liebt Tennis und teilt gern in einer ganz wunderbar lockeren Art ihr Wissen mit. Natürlich hat sie wie fast jeder hier in der OWL-Arena Roger Federer spielen sehen. 10 mal hat der Schweizer das Turnier gewonnen. Vom Zugchaos hat Barbara nix gehört. Schade, meint sie, ich wäre gefahren. Und dann spricht sie weiter über Tennis. Und wenn ihr etwas nicht einfällt, fragt sie ihr Handy. Ich werfe ein, dass ja in der Arena auch große Konzerte stattfinden, denn gestern sah ich die Plakate von Peter Maffay, Sarah Connor, Johannes Oerding und Wincent Weiss. Barbara würde zu all den Konzerten nicht gehen. Naja vielleicht doch, unterbricht sie sich selbst, eventuell zu Wincent Weiss. Weil der „Wolke Vier“ singt. Der Song steht nicht auf dem Line up von Wincent Weiss. Aber das erwähne ich nicht. Angekommen in Halle gibt mir Barbara ihre Visitenkarte. „Ruf mich an, ich hole Dich ab.“
Der Finaltag in der OWL-Arena ist ein kurzer. Das Doppel-Finale hat nur zwei Sätze. Und auch der Russe Daniel Medvedev und der Pole Hubert Hurkacz spielen das zweitkürzeste Finale von Halle ever. Hubert Ist eindeutig besser und reist nun als einer der Favoriten nach Wimbledon. Medvedev nicht. Russische Spieler dürfen in diesem Jahr auf dem heiligen Rasen nicht antreten. Darüber wurde in den letzten Wochen viel diskutiert. Der private Tennis-Club setzt mit seinem Grand-Slam-Turnier ein Zeichen. Und die ATP vergibt dafür erstmalig für das Turnier in Wimbledon keine Weltranglistenpunkte. All das sind Themen um mich herum. Über zwei Sachen sind sich alle einig: Das Finale war zu kurz. Und man hätte lieber Zverev und Federer gesehen. Neben mir klatscht eine Russin, die in München lebt, für den Polen Hubert. Ja, meint sie, der Daniel war heute faul und hat nicht gekämpft. Dann sprintet sie nach vorn, sie will vom Polen ein Autogramm. Der bleibt noch lange nach seinem ersten großen Sieg auf Rasen im Stadion, schreibt fleißig seinen Namen auf Tennisbälle und gibt Interviews und umarmt immer wieder seinen Trainer, denn der hat heute Geburtstag. Für das Duo lief es also bestens in Halle.

Für mich und meine Bahnreise nach Bielefeld läuft es erneut nicht so gut. Besser gesagt gar nicht. Der Zug fällt aus. Also rufe ich Barbara an. Die ist schon 30 Minuten später an der Arena und natürlich weiß sie auch schon alles über das Spiel des erfolgreichen Polen. Da im nächsten das ATP-Tunier in Halle 30 Jahre alt wird, speichere ich mir Barbaras Nummer ins Handy. Sie findet das gut.

In Bielefeld dann hat mein ICE nach Berlin 90 Minuten Verspätung. In der Bahn-App steht einfach nur das Wort Streckensperrung. Ich bin geduldig.
In den letzten drei Wochen habe ich mit der Deutschen Bahn bei drei ICE-Fahrten 6 Stunden und 23 Minuten Verspätung gesammelt.