Udo Lindenberg singt: Nun steh ich wieder an der Autobahn und halt den Daumen in den Wind, es wurde Zeit mal wieder loszufahren … ich will meine Träume, nicht nur träumen … ich will sie auch erleben.
Robert Frost schreibt: Im Wald zwei Wege boten sich mir da, ich ging den, der weniger betreten war, das änderte mein Leben.
Ich, Jac B., habe vor 5 Jahren gesagt, als ich gefragt wurde, warum ich auf dem Pacific Crest Trail wandern will: WEIL DER WEG DA IST. Und die Möglichkeiten grenzenlos sind.
Auf dem Tag genau vor 5 Jahren habe ich meinen Wanderrucksack gepackt, mich von meinen Liebsten verabschiedet und bin in den Flieger nach San Diego gestiegen. Für eine Auszeit. Für eine Wanderung fernab der Zivilisation. Bereit, für ein bisher unbekanntes Leben in der Natur und mit ihr.
Jetzt sitze ich am Schreibtisch, schaue über Berlin, spüre Sehnsucht, ertaste die zu vielen Kilos auf meinen Corona-trägen Körper und staune, über meinen damaligen Mut, meine Courage, meinen Willen, die über 4200 km einfach anzugehen. Und suche die Person, die so waghalsig war, Standards verlassen und sich auf ein Leben „da draußen“ einfach so eingelassen hat.

Der Blick über Berlin verschwimmt, es ist eine Schärfenverlagerung, Musik erklingt, das Tor in die weite Welt öffnet sich. Erinnerungen. Schöngefärbt, bunter, als die ersten Schritte in der Wildnis damals wirklich waren: Ich schleppte mich über die Berge, ich hörte nur meinen schweren Atem und nicht das Singen der Vögel, das Rauschen der kalten frischen Bergflüsse, den Wind über den Wipfeln der Welt.
Schaue ich am Schreibtisch sitzend nach links, sehe ich mich auf vielen Bildern, die mich auf dem PCT zeigen: In Warner Springs, ich sehe müde aus. Auf dem Mt. Whitney, ich sehe stolz aus. Am Ende des langen Weges, kurz vor Kanada, am Obelisken, ich bin ein Federgewicht und sehe aus, wie der glücklichste Mensch der Welt. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.

Schaue ich am Schreibtisch sitzend nach rechts, sehe ich einen kleinen Kinder-Schreibtisch mit einer Weltkugel, da sitzt gern mein Enkel Fritz. Immer wieder muss ich ihm auf der bunten Kugel zeigen, wo die Oma gewandert ist. Und Fritz sagt: Ich will auch ein Wanderer sein.
An meiner Tür zu meinem Arbeitszimmer klebt ein Aufkleber: PCT 2017: Fire and Ice! Den Aufkleber hat mir ein Trail Angel kurz vor Kanada geschenkt. Bis zur Rückkehr habe ich ihn gehütet, wie ein Schatz, weil er mir mit den Worten übergeben wurde: Sei stolz, du hast es bald geschafft, trotz des vielen Schnees, der vollen Flüsse in den Bergen, die du durchqueren musstest und den vielen Tagen voller Rauch im Wald, weil es in Oregon und in Washington einige Waldbrände in der Nähe des Trails gab.

Steht die Tür zu meinem Arbeitszimmer offen, sehe ich im Flur einen Einbauschrank. Die Fächer sind gefüllt mit meinen Wandersachen: Zelt, Schlafsack, Luftmatratze, Kocher Merinokleidung, Kopflampe, Wasserfilter, Wanderstöcke, Rucksack. In einem Fach liegt ein neues Zelt. Free Standing. Ein Big Agnes Copper Spur. Mein Sohn hat es mir geschenkt. Bisher habe ich es nur in der Wohnung aufgebaut, ein Tummelplatz für meine Enkel Fritz und Rudi.
Die Tastatur auf meinem Schreibtisch erzeugt keine Geräusche. Meine Hände ruhen. Mein Handy piept. Eine Message von Thomas K. kommt rein. Ein PCT-Hiker. Er ist jetzt auf dem PCT-Trail und gönnt sich gerade eine Pause in Idyllwild in Kalifornien. Mit anderen Hikern. Er schickt ein Foto. Die Hiker kenne ich nicht, aber sie kommen mir trotzdem bekannt vor: Sie sehen aus wie wir damals, meine PCT-Wanderfreunde, wir nannten uns Pinky Gang: Genauso dreckig und glücklich! Der gleiche Staub im Haar. Die gleichen vollen Rucksäcke. Glückliche Gesichter, strahlende Augen. Ich höre fast ihr herzliches Lachen und erahne, wie froh sie sind, zusammen zu sein, die Natur als Freund zu haben und sich als Partner – vereint auf einem Weg, der jeden Tag anders ist, immer mit neuen Herausforderungen daherkommt und auf geheimnisvolle Weise alle verbindet. Nicht mal ein Meter breit, sich schlängelnd durch Täler, über Berge, vorbei an natürlichen Schönheiten, die kaum ein Foto oder ein Film in Perfektion wiedergeben kann.
Erinnerungen. Ich muss eine Pause machen. Schnappe mir mein Strickzeug. Ein Schal für meine Schwester. Seit Corona habe ich Wollfäden zu Geschenken verstrickt, so lang wie der Trail. Und mehr.
Weil die Nadeln kreisen und die Tastatur ruht, springt bei meinem Rechner der Bildschirmschoner an: Natürlich erscheinen Lieblingsfotos vom Trail: Eva in ihrer roten Daunenjacke, die hat sie glaube ich nie ausgezogen. Ich auf der Bridge of the Gods, stolz mit einem Zettel in der Hand, darauf steht, KM 3261! Mike, Stefania und ich auf dem Cispus-Pass – wir glänzen in der Sonne auf der wunderschönen wilden Ridge. Es ist kaum auszuhalten.


Im Film „Jenseits von Afrika“ sagt Tania Blixen zum Zustand, etwas nicht mehr aushalten zu können: Wenn die alten Kartographen ans Ende der Welt kamen, pflegten sie zu sagen, dahinter werden Drachen sein. Also rufe ich von meinem Schreibtisch aus: Alexa, spiele Guiding Light von Foy Vance ft. Ed Sheeran. In den letzten Wochen auf dem Trail war dies MEIN Song! Danke Felix, Du hast ihn mir geschickt! Die Drachen ignorieren und es aushalten. Das meint Tania Blixen, das mache ich jetzt – im Schüttelfrost-Zustand. Vor 5 Jahren war der Rucksack gepackt und ich bin losgezogen. 160 Tage in der Wildnis. Als ICH und doch anders.
Ich sitze am Schreibtisch und schließe die Augen und atme und weiß, warum dies alles passiert und die Luft im Zimmer hier in Berlin plötzlich nach Salbei wie in der Mojave-Wüste riecht.
ES GEHT WIEDER LOS. In den letzten Wochen haben Wanderer aus der ganzen Welt ihren Rucksack gepackt, sich von der Zivilisation verabschiedet. Für ein Abenteuer. Erfahren oder nicht. Trainiert oder nicht. Mit wenig und dem Wunsch, ohne Grenzen zu leben. Wandern. Einfach nur wandern. Auf der Suche nach der Vergangenheit und Zukunft, nach etwas, was fehlt und fehlte. Am Rande der Wirklichkeit und des wahren Lebens. Auf einem Streifen Wildnis, frei und vielleicht doch auf Antworten wartend, die kommen oder nicht.
Am Schreibtisch sitzend, der Berliner Himmel ist nun schwarz, die Stadt leiser, einige Fenster gegenüber sind erleuchtet. Ich sehe flimmernde TV-Bildschirme und mich auf diesen. Eine einzigartige, wichtige und krasse Vorführung: Schau, das bist du! Das hast du gemacht! Schritt für Schritt! Jeden Tag. Und wer hatte es dir zugetraut? Du selbst am wenigstens. Doch dies war egal. Ein mutiger Plan. Alles, was ungünstig an dir klebte und dich im Alltag schräg verhaftete, hast du über Bord geworfen.
Mir gefällt der Film, den ich mir hier am Schreibtisch auf den TV-Bildschirmen wünsche. Ich liebe Filme, ich kann in ihnen aufgehen.
Wieder ruht die Tastatur. Atmen. Nochmal die Message von Thomas K. lesen. Und ich weiß, von dem Film, den ich da sehe, den ich gern so sehen möchte, bin ich nicht mehr die Regisseurin.
Komplett euphorisch und NEU bin ich vom Trail zurückgekommen. Ich habe Unnötiges aus meiner Wohnung entfernt, mein Auto verkauft, das Fahrrad geputzt, ein vegetarisches Leben gestartet, Wanderungen geplant. War auf dem Kilimandscharo, bin über die Alpen gegangen. Und das alte Leben mit gewohnten Mustern dann doch wie ein gelerntes Strickmuster wieder aufgenommen.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und ziehe mir eine Strickjacke an. Das Fenster ist weit geöffnet. Es ist fast windig in meinem Zimmer. Und ich bin dankbar. Dass wieder Hiker losziehen und ich daran teilhaben darf. Fast klatsche ich in die Hände! Das Foto der lachenden Hiker von Thomas K. macht klar, aus meinem Wortschatz und Leben muss ich meine AUSREDEN-Muster streichen wie einst. Es war einfach und es ist einfach!
Das Leben hier meistere ich, fast immer. Mit allen Freuden und Freunden und Lieben und Herausforderungen. Als ich mich vor 5 Jahren für MEINE Zeit auf dem Trail entschieden habe, war ich auch irgendwo egoistisch. Ich bin verschwunden, habe die Wohnung untervermietet, Vertraute und Vertrautes zurückgelassen und für die eigene Rettung an mich gedacht. Es wird Zeit. ES GEHT WIEDER LOS.

Der Continental Divide Trail, kurz CDT, ist ein rund 5000 Kilometer langer Fernwanderweg entlang der nordamerikanischen kontinentalen Wasserscheide von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze. Nur rund 200 Leute versuchen sich jedes Jahr an dem gesamten Weg und benötigen dafür etwa sechs Monate. Die meisten von ihnen starten im April im Südwesten von New Mexico und wandern in Richtung Norden bis nach Kanada, bis zum Glacier-Nationalpark, passieren: Montana, Idaho, Wyoming, Colorado und New Mexico.
Vor 5 Jahren habe ich meinen Rucksack gepackt und bin in der Wildnis verschwunden und glücklich zurückgekehrt.
Man kann umziehen, den Job wechseln, sich ein Haus kaufen – und mit allem glücklich sein.
Ich sitze an meinem Schreibtisch. Ich schaue über meine dunkle Stadt. Und ich weiß: Ich bin einer Wanderin.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue nach rechts zum Kinder-Schreibtisch mit der Weltkugel. Ich muss meinem Enkel Fritz zeigen, wo der CDT ist.
Coyotin, es bist immer Du, die mich inspiriert und Kraft gibt und auf mich achtest!!!! Cornwall, mega, da war ich mit meiner Schwester!!! Ich schicke Dir mein Buch von damals und den“Salzpfad“ – du wirst lesen, es ist machbar!!!! SAFE, wie toll, 10 Tage, mega neidisch! Drücke Dich.
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Lieber Hubertus, schön, von Dir zu hören, ich hoffe es geht Dir gut und besser, ich erinnere mich an Deine lieben Zeilen, Kommentare!!! Ja, einen Plan zu haben, ist gut. Vor allem, wenn es eine Herzensangelegenheit ist! Schön, dass Du dabei bist!!!!
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Vor fünf Jahren habe ich deine Berichte mit Spannung verfolgt, sie haben mich motiviert und durch eine nicht ganz einfache Zeit geholfen – jetzt freue ich mich, wenn ich wieder an deinen Abenteuern, Begegnungen und Erfahrungen teilhaben kann – mit aufkeimender Vorfreude, Hubertus
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Meine Liebe, wieder so berührend, was und wie du schreibst. Ich bewundere Dich immer noch dafür!!!
Inspirierst mich ja häufig, nicht nur bei beruflichen Fragen. So gehe ich schon länger mit dem Gedanken schwanger, wenigstens mal eine kleine Wanderung anzugehen. Und just heute früh, bevor Du mich zum Blog gestupst hast, habe ich 10 Tage Küstenwanderweg Cornwall im Juni gebucht. Mystischer Zufall oder Telepathie unter Freunden? Musst vorher noch trainieren mit mir, meine Familie ist bisschen besorgt, weil ich doch so tollpatschig bin und viel hinfalle/stolpere…
Gruß von der Coyoten-Gang an die Pinky-Gang! Deine C1
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Whoo hoo!!! Ich freu mich jetzt schon!! 😀
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Ja, und Du meine PCT-Hikerin, die mich so fot auf dem Trail zum nächsten Berg geführt hast, besuchst mich safe!!!!
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Unfassbar!!! Ich freue mich so für dich, endlich auf ins nächste Abenteuer!
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oh ja, danke, es wurde zeit, auf in die sonne! alles liebe dir, immer
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Es ist so schön, wieder von Dir und Deinen Gedanken zu lesen! Vor fünf Jahren war ich bei Deinem PCT „dabei“, und freue mich sehr für Dich auf Dein neues Abenteuer
Alles Gute und good hike 🍀💪🏼
Uli
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ja 2023!!! schön dich zu lesen, drücke dich
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Hey Jac,
was fuer ein mitreissender Beitrag – einfach toll! 😀
Geht es fuer dich diesen Monat etwa auch los? Oder wird der CDT dein neues Projekt fuer die nahe Zukunft? Ich bin ganz gespannt und feuere dich an! ❤
Alles Liebe aus Kanada,
Luisa
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