Im Job oder auch im Privatleben wende ich oft eine Methode für notwendige Veränderungen an, wenn mal wieder alles aus dem Ruder läuft, das Leben zu schnell, zu unüberschaubar oder aber auch zu gleichförmig wird:
Stell Dir vor Dein Leben ist wie eine Fahrt auf dem Highway. Alle sind schnell unterwegs. Auch Du. Ohne Halt. Immer in ein und dieselbe Richtung. Dann wird es Zeit, abzufahren. Nimm die nächste Ausfahrt, eine kleine Straße, einen Seitenweg. Und den Fuß vom Gas. Und schon fährt man anders, erhalten verschwommene Bilder wieder Konturen, weitet sich der Blick, atmet man bewußter, sortiert sich und entdeckt Neues.
Ich habe schon desöfteren den Highway verlassen. Wenn auch nicht immer mit Erfolg, weil ich mich dann doch verfahren habe. Sackgasse. BÄM.
Zum Abfahren gehört Mut. Denn im Strom mitzuschwimmen ist nicht unbedingt was Schlechtes. Man fühlt sich dazugehörig und sicher, kennt die Strecke, die Regeln. Durch Corona sind wir ganz plötzlich gezwungen worden, unser Leben zu überdenken, unseren Alltag neu zu gestalten. Kein einfaches Unterfangen. Man vermisst den gewohnten Highway. Oft so ganz Kleines, Selbstverständliches.

In meinem Kiez gibt es einen kleinen Friseurladen: Brittas Haarstudio. Dazu muss man wissen, dass Britta schon über 70 ist. Seit mehr als 40 Jahren hat Britta mit ihrem Team all meinen Nachbarn die Haare gewaschen und geschnitten. So ein Friseursalon ist nicht nur einfach ein Handwerksbetrieb. Professionalität, Preis-Leistungs-Verhältnis, gute Beratung, Nähe zum Wohnort – all das sind gute Gründe, um aus einem Friseursalon DEN EINEN werden zu lassen – den Stammfriseur. Aber interessanterweise sind das gar nicht die wichtigsten Aspekte. Was zählt, ist Freundlichkeit! Dies hat zumindest eine von Statista im November 2017 durchgeführte Umfrage ergeben. Dazu wurden über 1000 deutsche Frauen über 18 Jahren befragt, aus welchen Gründen sie einen Stammfriseur wählen. Und dabei lag die Freundlichkeit mit 57% an erster Stelle, dicht gefolgt vom Preis-Leistungs-Verhältnis. In vielen kleinen Läden ist es so wie im Film „Magnolien aus Stahl“ – der Salon ist Kommunikationszentrale, Lebensretter, Eheberater. Oft Küche, Kuschelkurs und ein guter Kumpel.
So auch bei Britta. Meine Katrin im Salon kennt mich – will ich reden oder nicht. Sie weiß es. Und ich muss natürlich nie anmerken, was auf meinem Kopf passieren soll. Gern höre ich ihren Kolleginnen zu, wenn sie mit den Kunden sprechen. Danach weiß man, wer im Kiez geheiratet hat, wo wieder eine Familie aus Hessen in ein Dachgeschoss gezogen ist und dass der Rewe um die Ecke bald neu eröffnet.
Dann Mitte März 2020 in Deutschland. Das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite tritt in Kraft. Britta muss ihren Laden schließen. Wie Hundertausende auch. Ich weiß nicht, ob Britta oder Katrin daheim in ihren Familien weiter Haare gekürzt haben. Ich weiß nur, dass nach ein paar Wochen – neben Familie, Freunde, das Office mit den Kollegen und vielen anderen alltäglichen Dingen – mir auch ein neuer Haarschnitt und Farbe fehlte.
Dann Juni und Lockdown Ende. Sofort mache ich mich auf zu Britta und Katrin. Doch vor dem Laden fehlt der Fahrradständer und die Jalousie ist unten. Ich wähle die im Phone gespeicherte Nummer – vielleicht geht ja der Anrufbeantworter an. Es klingelt und klingelt. Erst da entdecke ich einen kleinen weißen Zettel, verpackt in einer Plastikfolie, klebend auf der Jalousie. Mit wenigen Worten verkündet Britta, dass der Laden leider nun für immer geschlossen bleibt, sie es nicht geschafft hat, ihn zu halten. Diesen Worten folgt ein großes DANKE an die vielen treuen Kunden über viele Jahrzehnte. Ich stehe mehrere Minuten vor dem Laden. Dann krame ich in meinem Rucksack nach einem Stift, löse die Folie und notiere ein paar Worte auf Brittas Zettel: Hallo, wie geht es Euch? Wo seid Ihr denn jetzt? Ich komme auch gern dahin. Alles Gute, Frau B. Darunter schreibe ich meine Handynummer.

Der Morgen danach. Ich habe mich aufgerafft und jogge im Volkspark Friedrichshain. Allein bin ich nicht. Seit Corona hat sich die Zahl der frühen Läufer verzehnfacht. Da klingelt mein Phone. Wie peinlich. Und wie früh. Die Nummer kenne ich nicht. „Hallo, ich bin der Herr Soßner, wo ist denn die Britta nun?“ Ich benötige ein paar Sekunden und frage nach. „Ja, Hallo! Wer ist da?“ Und wieder stellt Herr Soßner sich vor und erzählt: „Ich gehe seit 42 Jahren zu Britta. Was mache ich denn jetzt, wo soll ich denn jetzt hingehen? Die anderen sind alle so teuer? Wo gehen sie denn jetzt hin, Frau B.?“ Eine gute Frage, ich weiß es selbst noch nicht. Herr Soßner ist an diesem Vormittag nicht der einzige, der meine kleine Nachricht gelesen hat und die von mir notierte Nummer wählt. Frau Meier. Herr Liebig. Und eine Ines. Und so geht es weiter. Am Ende vermissen alle die lieben Damen mit Herz und mit annehmbaren Preisen.
Ein paar Tage später treffe ich durch Zufall Katrin. Sie hat aus dem Laden zum letzten Mal ein paar Dinge geholt. Der Zettel mit meiner Nachricht ist verschwunden, sie hat ihn nicht abgenommen. Katrin arbeitet jetzt in einem Bootshaus in Köpenick. Sie hätte gern den Salon übernommen, doch eine Neuvermietung heisst im Prenzlauer Berg immer MEHR MIETE. Viel mehr. Was sich Katrin leider nicht leisten kann. Und Britta ist nun eine Rentnerin daheim und zu agil für den Ruhestand.
Wieder ein paar Tage später ist die Jalousie des Salons hochgezogen. In der großen Scheibe klebt ein Schild. In Leuchtbuchstaben steht da: Mieter gesucht! Ich tippe, dass hier demnächst ein weiterer Coffee Shop öffnen wird, mit vegan Food und viel Mandelmilch. Das Leben geht weiter! Oder?
Führt uns die Corona-Krise vor Augen, wie sehr wir Menschen voneinander abhängig sind – sowohl im unmittelbaren Umfeld als auch global? Verstehe ich mehr, dass auch meine Handlungen unmittelbare Konsequenzen für meine Mitmenschen haben können?
Die Hoffnung wäre so etwas wie eine Stärkung des Gemeinsinns. Dann hätte vielleicht auch Katrin den Laden übernehmen können. Was hier sicher ein ausgemachtes Positivszenario ist. Eben an einem Strang ziehen. Gemeinsam auf dem Highway, aber auch gemeinsam, wenn nun nötig, Seitenwege erobern, die Festplatte löschen und neu starten. Aber vielleicht ist es auch nur eine kleine Nachricht.
Liebe Luisa, vielen Dank, dass ich Deine Morgenlektüre sein durfte, freut mich. Ich denke mal Du bist da wo Du bist, weil Du eher als andere oder ich vom Highway runtergefahren bist! 👍👍 Das Haareschneiden gestalten sich schwieirger als gedacht …. aber vielleicht findet ja meine Katrin was Neues. Pass auf Dich auf, alles Liebe, Jac
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Hi Jac,
Direkt nach dem Aufstehen habe ich deinen Beitrag gelesen und seitdem spiel „Life is a Highway“ in meinem Kopf. 😀
Ich druecke fest die Daumen, dass du bald einen neuen Friseur findest, bei dem du dich sehr wohl fuehlst. Schade, dass es mit Britta nicht weitergeht. Das hat selbst mich ganz nostalgisch gemacht. Und dabei gehe ich noch nicht mal zu einem Friseur, egal wo auf der Welt!!
Danke, dass deine Worte mich mal wieder beruehrt haben. 🙂
Alles Liebe,
Luisa
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