Heute hat mir ein Freund einen Satz geschickt, den die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern aktuell auf der ITB in Berlin sagte: Wer einmal am Strand von Hiddensee gesessen hat, der spürt dieses unglaubliche Gefühl von Freiheit und Geborgenheit zugleich. Der Satz verträgt die Überschrift AUSZEIT.
Im Sport bedeutet Auszeit, ein Spiel wird unterbrochen: Time out. Im Film AUSZEIT geht es um die Krise des Mittelstandes, um den Selbstbetrug eines Mannes, der sich eine Parallelwelt schafft. Auch Bungee Jumping bedeutet Auszeit – für ein paar Sekunden inklusive Adrenalinschub. Heutzutage ein Sabbatical zu nehmen ist modern und eine wunderbare Möglichkeit, für eine bezahlte Auszeit, wenn der Chef dies versteht und unterstützt.
Ich liebe Auszeiten. Vor allem die kleinen. Oft sehen wir diese nicht, nutzen sie nicht, gehen diese nicht an. Wir kennen sie nicht mal. Wir buchen sie nicht als Auszeit ab. Warum eigentlich nicht? Weil wir keine Auszeit benötigen? Ich glaube, weil wir zu groß denken. Bilder sehen wie einen gepackten Koffer, ein Flugzeug in der Luft, eine Palme am Strand.
Auszeiten sind direkt im Alltag möglich. Als ich mit zwei Kolleginnen heute das Büro verließ, reckte ich meine Nase in die Luft und sagte: „Es riecht nach Frühling.“ Beide blieben stehen und taten es mir gleich. Eine Auszeit. Eine bewußte Pause zulassen. Entdecken. Genießen. Sich wundern und freuen.
Seit ich vom PCT zurück bin, also seit ich von einer sechsmonatigen Auszeit zurück bin, bin ich für Auszeiten mehr als empfänglich und offen.
Ich stehe früh eher auf, trinke meinen Kaffee nicht mehr im Stehen. Ich sitze im Coffeeshop. Lese. Schreibe. Ich nehme die Bahn, schaue mir Menschen an und lese wieder. Nach fünf Tagen mit Salat und Obst, koche ich mir freitags Nudeln. Fülle meinen Teller übervoll und genieße eine leckere Auszeit vom gesunden Essen. Eine Stunde bei meiner Mama in der Küche – mit Eiersalat und Bouletten – gehört auch in diese Kategorie. Wie Cremant mit meiner Schwester auf ihrer Terrasse in Braunschweig mit Blick auf den Brocken. Ja, Blicke in die Ferne verbunden mit tiefer Atmung – Auszeit.
Ich glaube als Schülerin war die Arbeit als Postzustellerin bei uns auf dem Dorf eine Auszeit für mich. Die Einwohner pünktlich mit ihren Zeitungen zu beglücken, war etwas anderes als Hausaufgaben und Leistungskontrollen und schenkte Freude. Auszeit ist Freude und Genuss und Loslassen und bedeutet, dem Alltag eine Pause zu geben.
Seit meinen Tagen auf dem Trail letztes Jahr freue ich mich über Auszeiten mit meinen Hiker-Freunden immer sehr. Nachdem ich mit einigen Silvester zusammen erlebt habe, ging es nun gemeinsam nach Tel Aviv.

Mit Eva, Stefania aus London und Adam aus Poznan. In Tel Aviv wartete Shahak auf uns. Stefania ist mit ihm gestartet, ich lernte Shahak auf meinem letzten Abschnitt in Washington kennen. Er schlief morgens lange und wanderte dann so schnell, dass er gegen 5 Uhr uns stets einholte. Nun holte uns er mit dem Auto seiner Schwester ab. Und so schnell wie er wandert fährt er mit dem Wagen durch das quirlige Tel Aviv. Und dann war es so, wie es immer auf dem Trail war. Wir sind zusammen, aber jeder macht auch seinen Stiefel. Wir teilen uns eine Wohnung als hätten wir in unserem Leben nie anders gelebt. Wir teilen uns auch alle leckeren arabischen Vorspeisen.

Immer wieder schließen wir gemeinsam unsere Augen und halten unsere Gesichter in die Sonne. Natürlich ruft Stefanie „Awesome“. Sie bestätigt damit den an sie vergebenen Trailnamen. Dann laufen wir Kilometer um Kilometer durch Tel Aviv, über Märkte, nach Jaffa. Mit bunten Hüten, denn in der zweitgrößten israelischen Stadt ist Karneval. Noch vor einem Jahr wäre ich nicht mit einem Papierhut rumgelaufen. Jetzt nehme ich jederzeit eine Auszeit von Regeln und merkwürdigen Vorgaben.

Durch Jerusalem führt uns Tamar, sie lebt hier. Ich habe sie auch auf dem Trail getroffen, in Cascades Lock. Hier daheim arbeitet sie im Willi-Brandt-Center. Sie fragt mich gleich,ob wir denn nun eine Regierung haben. Am Abend sitzen wir alle zusammen – Israelis, Deutsche, ein Pole, eine Italienerin. Natürlich reden wir über den Trail, lachen über gemeinsam Erlebtes. Aber wir reden auch über die Vergangenheit. Shahak erzählt von seinen Großeltern. Sie haben es rechtzeitig aus Polen geschafft, aber viele Verwandte sind in Auschwitz ermordet worden. Shahak, der jeden Tag auf seinem Weg zu seiner Ausbildung zum Flight Attendant an Mauern vorbeifährt und durch Kontrollen muss, will wissen, wie es für mich war, mit der Mauer zu leben. Unsere Auszeit hier ist anders als auf dem Trail. Wir reden mehr und wir sind in unseren Erzählungen dem Alltag näher.
Unsere nächste Auszeit haben wir auch gleich bei unserem Zusammensein in Tel Aviv geplant. Es geht Ende Juni nach Brüssel. Dort werden wir Hikerin Mighty Mouse besuchen und ich endlich eine Freundin, mit der ich in Leipzig studiert habe. Sie lebt in Brüssel und arbeitet dort für das ZDF.
Daran denke ich jetzt, wenn ich früh durch Köln stapfe – eine Auszeit. Einfach nur im Kopf. Auch das geht. Ach und DANKE Frau Ministerin. Ich höre schon jetzt, wie mein Rucksack in den Sand von Hiddensee fällt. Ich sehe, wie ich meine Arme ausbreite und spüre, wie die Meeresluft meine Haut steichelt, das Meeresrauschen zum Song in meinen Ohren wird.
Und: Immer, wenn ich jetzt auf meinen linken Unterarm schaue, kommt dies einer Auszeit, wenn auch einer kurzen, sehr nah.
