#Nach dem PCT / Kilometer 7 / Ausnahmezustand

Jedes Jahr im Februar wurde in meinem Kindergarten ein Gruppenfoto geschossen. Es zeigt uns Knirpse im Faschingskostüm. Auf jedem Foto habe ich ein verheultes Gesicht, was nicht am Kostüm lag. Meine Oma Sandy hat nähend immer alles gegeben, egal ob ich als Sterntaler ging oder als Postfrau. Aber ich hasste das Verkleiden. Vielleicht auch die kollektive Fröhlichkeit. Dies hat sich bis heute nicht geändert.

Und nun bin ich in Köln, mitten im Ausnahmezustand der Metropole am Rhein. Der Karneval hier ist DAS rheinische Volksfest schlechthin, weltweit bekannt, Pflichtprogramm für alle Einheimischen, geliebt und schon Wochen vorher in aller Munde, in allen Kalendern. Auch meine Kollegen hier haben Urlaub eingetragen. Etwas verwundert schauen sie mich an, als ich für den Rosenmontag ein Kreativmeeting ankündige. „Habt Ihr alle frei?“, frage ich in die Runde. „Ja klar, Kölle alaaf.“ Traditionen muss man akzeptieren. Sie sind Grundlagen für ein gutes soziales Leben. Egal, ob im Mittelpunkt ein volles Maß Bier steht oder ein wunderschönes Kostüm. Und in Köln läuft dieser Tage alles unter dem Motto Mer Kölsche danze us der Reih.

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Am Abend vor Weiberfastnacht treffe ich im Hotel einen jungen Mann in Kostüm. Er ist nun ein Ninja-Turtle, eine Comic-Figur. Er trägt einen grünen Panzer, eine Augenbinde. Ich schmunzle ihn an. Der junge Mann reagiert: „Ich war kurz draußen. Kostüm testen. Ist ganz schön kalt, da musste ich checken, ob ich zusätzliche Unterwäsche benötige.“ „Und?“, frage ich und schaue auf die dünnen Strumpfhosen. „Reicht!“, sagt die grüne Schildkröte. Und wir einigen uns darauf, dass Kölsch und Schnäpse auch helfen werden.

Am Morgen treffe ich im Fahrstuhl eine Hexe, sie sieht sehr gruselig aus. Ok, es ist noch sehr früh, ich prüfe mein Make-up. Am Büffet holt sich Jesus Salami, eine Polizistin verkauft mir Zigaretten, ein Kämpfer mit zwei Laserpistolen posiert für Selfies in der U-Bahn. Vor dem Drogeriemarkt, er öffnet erst um 9, ist eine Riesenschlange. Ich will nur Kaffee fürs Office kaufen. Alle anderen haben Glitzerfarben, Haarspray, künstliche Wimpern, Papierschlangen und Fingermalfarben im Einkaufskorb. Vielleicht sollte ich ein Indianer-Haarband nehmen. Meine Kollegen würden über die Berlinerin sicher staunen.

Am Abend hängt in der Hotel-Lobby eine schwere Alkoholfahne in der Luft, ein paar Feierlustige nehmen Cocktails von der Bar, das gesamte Personal ist ebenfalls verkleidet.

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Die gute Laune überall steckt an. Aus dem Fenster schauen darf man nicht, wie nach einem Fußballspiel stehen überall pissende Männer in Ecken, vor Hauswänden. Die Gehwege sind voller Bierflaschen. Eine Kollegin hatte gesagt: „Beim Karneval in Köln findest du alles – sogar Sex auf offener Straße.“  

Ich hole mir ein Glas Wein und komme mit zwei Damen ins Gespräch, sie haben gerade erst eingecheckt, denn ich sehe riesige Rollkoffer. Für eine Dienstreise haben sie nicht gepackt. Ihr Gepäck besteht aus Kostümen. Erst ein Wein, dann beginnt das große Verkleiden und dann geht’s ab in die Nacht. Die beiden Freundinnen kommen seit Jahren zum Karneval nach Köln. Direkt aus Bremen. Die Männer haben in diesem Jahr eben ihre Fußball-WM, wir haben hier unsere tollen Kostümtage, sagen sie. Als ich das erste Mal mit meiner Schwester wandern war, fühlte ich mich auch etwas verkleidet. Wiederholungen machen sicher. Vielleicht sollte ich mit einem bunten Hütchen beginnen.

Wenn ich von meiner Laufstrecke in Richtung Media Park renne, sehe ich mein Hotel. An diesem Morgen erinnert es an ein Haus inmitten einer italienischen Stadt. An allen Fenstern hängt etwas. Es sind aber keine Wäscheleinen, sondern um die Gitter gewickelte Beutel voller Getränke. Die Zimmer sind ohne Kühlschränke, da wissen sich die Jecken und Narren zu helfen und nutzen die kalten Außentemperaturen. Zum Frühstück bilden sich nach den Feiernächten lange Schlangen vor Kaffeeautomat und Safttheke. Die Putzkräfte haben mehr zu tun als üblich, die Flure sind voller Federn und Konfetti. Ansonsten bestimmt Stille das Hotelklima. Es muss für die nächste Nacht vorgeschlafen werden.

Lothar hatte eine tolle Nacht. Erzählt er mir aus freien Stücken, als er mich mit Kaffee im Innenhof antrifft. Er fragt, wie meine Nacht war, denn er findet, ich sehe müde aus. Ich erzähle ihm, dass ich seit um 3 wach bin und Olympia schaue. Olympia? „Ja klar, die olympischen Winterspiele haben begonnen und wir haben schon Gold geholt.“ Lothar schlürft seinen Kaffee weiter und beschließt meinen Zustand durch Olympia nicht zu bewerten. Er gehört zu den BLAUEN FUNKEN und davon muss er berichten. Wie die Funken das ganze Jahr über für diese bunten Tage planen, was dies alles kostet und wie jedes Jahr die Anforderungen wachsen. Früher, so erzählt Lothar, hatte er es einfacher. Da ist er am Rosenmontag früh um 8 zur Strecke gegangen, mit Bällchen. Ich glaube, das ist etwas zu essen. Ich frage nicht nach. Heute als Zugführer steht genießen nun an zweiter Stelle. Er wird gleich die Strecke abgehen, 12 Kilometer. Einfach nochmal alles prüfen. Ich frage Lothar, was er sonst macht. Lothar ist Innendesigner. Für Luxusyachten. Er pendelt ständig zwischen Hamburg und Miami. Seine Auftraggeber sind Milliardäre. Gerade kümmert er sich um eine „Explorer“, die Yacht ist 50 Meter lang.

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Über 50 Millionen wird der Innenausbau kosten. Für den Scheich kein Problem, meint Lothar. Was, wenn alle Schiffe gemacht sind, frage ich. Lothar lächelt und berichtet, dass er sich auch um Innenkabinen von Privatflugzeugen kümmert. Bis 2025 stimmt die Auftragslage. Ich muss mir den Rosenmontagszug im Fernsehen anschauen. Der schönste Wagen ist bestimmt Lothars Wagen. Mein Vater hat sich früher am Rosenmontag immer einen freien Tag gegönnt. Da bei uns daheim Westfernsehen geschaut wurde, saß er davor, genoss stundenlang die verrückte Kölner Wagenkolonne und amüsierte sich über die politischen Karikaturen. Mich als junges Mädchen begeisterten die Tonnen von Süßigkeiten, die durch die Luft flogen. Ich habe ihn angerufen und gefragt, ob er das Spektakel noch immer im Fernsehen verfolgt. Er sagte seit dem Mauerfall nicht mehr.

Nach dem Gespräch mit Lothar laufe ich durch die Stadt. Überall sehe ich Fahrradkuriere von Lieferando, Foodora und Delieveroo. Die Nachtschwärmer haben leere Kühlschränke und Mägen. Energie für die nächste Partynacht wird gebraucht. Ich treffe die zwei Rollkoffer-Damen. Sie überreden mich, sie zu begleiten. Ich wähle ein Kleid mit Blumen und stecke mir noch eine Blume ins Haar. Das reicht, sagen die beiden nun als Krankenschwestern verkleideten Bremerinnen.

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Meine Kollegin Pia hatte mir via WhatsApp eine Musikliste zum Thema Karneval geschickt. Da ich kurz reingehört habe, bin ich vorbereitet. Zwei Stunden schunkle ich tapfer mit.

Am Rosenmontag sind die Straßen auf meinem Weg zum Office leer. Das mag ich. Als ich mal in New York war, sperrte man für einen Event die gesamte Park Avenue. Diese dadurch früh um 6 für einen Morgenlauf nutzen zu können, war ein Highlight für mich in Big Apple. Als Obama in Berlin weilte und im Ritz Carlton am Potsdamer Platz wohnte, war die Leipziger Straße tagelang autofrei und für uns Radfahrer somit ein Paradies. In Köln überholen mich mit dem Rad lauter Bären. Ich lache und erinnere mich, wie ich zitterte, als ich in Südkalifornien einem Schwarzbären direkt auf dem Pacific Crest Trail in die Augen schaute.

Wenn ich morgen früh die U-Bahn nehme, werde ich sicherlich die fröhlichen Menschen vermissen, die gut gelaunt gegrüßt und einen schönen Tag gewünscht haben.

 

 

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