#2019 / Kilometer 8 / Lütt Matten würde sich wundern

Die Insel Hiddensee befindet sich wie das Leben und wir ständig im WANDEL. Geblieben ist Jahr für Jahr aber ein Programmpunkt. Im Zeltkino im Hafen in Vitte können die kleinen Urlauber den DDR-Kinderfilm „Lütt Matten und die weiße Muschel“ sehen. Gedreht wurde er 1963 auf der Insel und ist nun Heimatgut. Etwas ganz Besonderes. Besonders ist auch das Zeltkino – im Sommer das heisseste Lichtspielhaus Deutschlands, man klebt auf den Stühlen fest, mit klebrigen Chips in der Hand. Aber Lütt Matten ist eben Lütt Matten. Meer und Wind riechen sicher noch wie damals, als Lütt Matten die weiße Muschel sucht und auf dem Bodden in Lebensgefahr gerät. Ansonsten würde der Kleine sich wundern. Im WANDEL befindet sich Hiddensee geologisch bedingt. Durch uns Menschen findet der WANDEL in vielen anderen Bereichen unermüdlich und seit Jahren statt. Besonders seit der Wende.
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Morgennebel in Vitte

Die autofreie Insel gleich neben Rügen ist seit 1995 mein Sommerrefugium. Rettungsschwimmer Lars brachte mich auf die Insel. Er ist kein Einheimischer, aber er kennt sie gut, er hat sie schwimmend umrundend. Als DDR-Kind habe ich es nie auf die Insel geschafft, ich kannte hier keinen und Beziehungen waren für Sommertage auf dem Island in der Ostsee vonnöten. (Immerhin habe ich es mit meiner Schwester und mit meinen Eltern samt Zelt und Trabant nach Rügen geschafft. Die Zentrale Zeltplatzverwaltung vermittelte uns einen Platz in Lohme. Dunkler Wald. Nicht am Meer. Es regnete ununterbrochen. Wir reisten eher ab.) Heute braucht man für einen Inselurlaub keine Beziehungen mehr, sondern eine gut gefüllte Urlaubskasse. Für die Fähre, für Räder, für die Ferienwohnung. Für den teuersten Edeka Deutschlands. Aber dafür ist man auf einer ganz besonderen Insel. Kurz vor der Wiedervereinigung wurde die Region hier oben noch schnell ein Nationalpark. Bereits wartende Investoren mussten ihre Träume von Hotelburgen auf Darss und Hiddensee begraben. Trotzdem zogen über die Jahre mehrere Bautrupps über die Insel, malerten und hämmerten um die Wette. Alte Katen erhielten ein neues Antlitz nebst exklusivem Innenleben, ganze Häuser kamen hinzu.

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Das Zeltkino im Hafen von Vitte
Jens und Karin aus Halle, die das letzte Mal 1983 auf der Insel waren, wollen in Vitte gar nicht von der Fähre gehen, sie erkennen nichts wieder und fragen sich, ob sie nicht im falschen Hafen gelandet sind. Ich frage mich eher, ob ich im Prenzlauer Berg bin. Erlebe Mütter, die den Biofleisch-Burger im neuen SCHILLINGS AMT in Kloster zu fett finden, sich im Edeka über die süßen Kleinigkeiten direkt an der Kasse beschweren, sie als Belästigung empfinden. Im Rewe bei mir daheim im Prenzlauer Berg konnten sich die Mütter durchsetzen, keine Süßigkeiten im Kassenbereich. Die Kids sollen nicht verführt werden. Und die Mütter wollen nichts verbieten müssen.
Ich mag den vollen Edeka auf der Insel. Die Kassenschlangen sind lang, man kommt mit Leuten ins Gespräch. Manfred aus Augsburg schaut auf meine auf dem Band liegenden Lebensmittel und schätzt: Das wird ein Hühnernudeleintopf? Ich nicke und wir plaudern über das Fischangebot im hiesigen INSELFISCH. Angelika findet meine Hiddenseekette schön. Sie trägt sie auch.  Der kleine Gustav vor mir hat nicht genügend Geld dabei. Für sein Magnum. Bitte, nimm! Jeden Tag eine gute Tat. Einheimische sind im Edeka leicht zu erkennen. Sie haben keinen Sonnenbrand. Die Chefin erkennt man auch, sie hat immer schlechte Laune. Was man eigentlich nicht verstehen kann, denn der Rubel rollt hier. Da viele Ferienwohnungen gut ausgestattete Küchen haben, wird daheim gekocht. Nach 22 Uhr sind die meisten Restaurants leer. Nur in der BUHNE XI bekommt man nach Mitternacht noch einen Wein, der aber leider nie die richtige Temperatur hat.
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Das Café Norderende – immer für einen Spruch gut
Als mein Sohn auf der Insel als Rettungsschwimmer seinen Sommer verbrachte, endete die Partynacht im Morgengrauen im GODEWIND mit einer Soljanka. Heute nicht mehr denkbar. WANDEL. Sind die Tagesgäste weg, wird es Zeit, den Laden zu schließen. Mathias Schilling – seit zwei Jahren öffnet er Jahr für Jahr ein neues Bistro oder Restaurant auf der Insel – hält es so. Personal wird gespart, Selbstbedienung ist angesagt. Dafür sorgt er für einen kulinarischen WANDEL. Es gibt jetzt Speisen mit Biofleisch, Burger und Hot Dogs auf der Insel. Schilling ist auch Landwirt und züchtet Rinder und Heidschnucken auf seiner eigenen Insel Öhe. Da sie dort munter über Salzwiesen laufen, dürfen sie das Biosiegel tragen. Im Angebot bei Schilling ist auch Kutterfisch. Der Kutter Anna Lena fährt jeden Tag raus auf die Ostsee, mit traditionellen Stellnetzen werden Dorsch, Hering und Zander gefangen. Ich koche fast immer, das ist für mich auch Urlaub. Pancakes mit Obstsalat für die Rettungsschwimmerkinder. Bratwurst und Sauerkraut für meinen Neffen. Meine Schwester will Salat. Meine Nichte liebt meine Nudeln mit Tomatensoße. Ich glaube die Insel liebt sie aber noch mehr. Nach dem Abitur hat sie acht Wochen auf der Insel im WIESENECK gekellnert. Als ich ein Jahr danach mit ihr auf nun „unserer“ Insel reiste, grüßte die komplette Inseljugend sie. „Hallo Liz!“ „Ach wieder da Liz.“ „Heute Abend Bauwagen, Liz.“ WANDEL. Zurück zum Essen:  Wenn es mal ins Restaurant geht, dann muss es das GODEWIND sein, Chef Andi nickt freundlich, ich nehme immer die Dorschpfanne. Leider ist auch hier der Wein nie kalt genug.
Guten Kaffee gibt es bei Kai von SURF UND SEGEL. Dazu schwedisches Softeis im Glas mit Eierlikör oder Sandornsirup. Eigentlich aber haben Kais Geschäfte mit dem Meer zu tun, er bietet Surfkurse an, man kann bei ihm Segeln lernen oder einfach nur mit dem Bord auf die Ostsee paddeln.
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Kais Boote am Strand von Vitte
Doch das Eisgeschäft läuft bestens. An manchen Tagen ist es auf Kais Wiese so voll als würde gleich hinter der roten Holzhütte der Jakobsweg entlang gehen. Ich sitze gern hier, amüsiere mich über kräftige Männer, die sich in enge Neoprenanzüge zwängen, über Kids die Sand über ihr Softeis rieseln lassen und über meine Schwester, die stöhnt, weil ich schon wieder bei Phase 10 gewonnen habe.
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Meine Schwester und ich abends auf dem Deich von Vitte
Und über all dem schwebt Kais ruhige Art wie ein Kuschelkurs für genervte Städter. Kais Frau Marte gehören die SCHMUCKBAR in Kloster und ein Schmuckgeschäft in Vitte. Die jungen Einheimischen haben die Insel verändert, mit ihren Geschäften. Jeder 2. Feriengast trägt ein SURF UND SEGEL- Shirt. Ich treffe einen alten Studienfreund bei SURF UND SEGEL. Jörg bucht Surfkurse für seine Kinder. Wir sehen uns einmal im Jahr, immer auf der Insel. Was toll ist, weil wir entspannt sind und nie über unsere Jobs beim Fernsehen reden. An meinem Tisch sitzt eine Familie, sie sind Segler. Drei Jungs, alle so hübsch wie die Mutter. Diese stöhnt über ein Buch. „Wenn es bis Seite 30 doof bleibt, aufhören!“, sage ich zu ihr. „Ich bin schon Seite 103.“, antwortet sie. Ich hole mein Iphone raus und lese ihr eine Bücherliste vor. Über KRANICHLAND unterhalten wir uns länger. Der Vater schlägt seinem jüngsten Sohn vor, in die KORALLE zu gehen, um sich ein Buch auszusuchen. Auch er liest.
Die KORALLE besteht nur aus einem kleinen Verkaufsraum, voll gestopft mit Büchern, viel DDR-Literatur und viel über Hiddensee, vom Inselarzt bis zur Sommerliebe. Als mein Sohn seine Harry-Potter-Phase hatte und wir auf der Insel waren, schlug ich Frau Seydel von der KORALLE vor, auch solche Bücher anzubieten. Gesagt. Getan. Sie hat alle Exemplare verkauft. Im Laden geht alles ohne Kasse und Rechner. Frau Seydel trägt die Beträge der verkauften Artikel mit Bleistift in ein liniertes Heft ein. Seit 1991 macht sie das so. Da hat sie die KORALLE eröffnet. Hier zu stöbern ist ein Muss. Da stößt man dann auch auf Bücher von Frau Seydel selbst, Bildbiografien über Asta Nielsen und Romy Schneider.
Auf der Insel wird das Bargeschäft bevorzugt. Scheine wechseln den Besitzer wenn man sich ein Rad leiht, zum Bernsteinschleifen geht oder zum Yoga morgens an den Strand.
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Zum Bernsteinschleifen geht man hierhin
Fast jeden Sonntag ist der einzige Geldautomat auf der Insel leer. Natürlich auch weil die Insel ausgebucht ist. Im Juli und August geht nichts mehr in der Zimmervermittlung. Mutige Inselliebhaber müssen am Strand schlafen, geduldet wird dies eigentlich nicht, aber vielleicht merkt es ja keiner. Wenn man Glück hat, bekommt man im Seglerhafen von Vitte noch ein Plätzchen. Oder man macht es wie Freunde von mir, sie haben ganzjährig ein Hausboot im Hafen liegen. Oder man macht es wie ich, ich habe jetzt schon für 2022 meine Lieblingswohnung mit Meerblick bei Frau Gottschalk gebucht.
In den zwei Sommermonaten jagt dann auch ein Programmpunkt den nächsten. Seenotretterfest, Hafenfest in Vitte, Hafensause in Kloster, Drachenfest in Grieben. Neu ist das musikalische Angebot. Die neue Kurdirektorin kann singen, sie tritt mit ihrem Vater als Duo VaTo auf. Zur Qualität hier kein Kommentar von der Autorin …WANDEL. Verändert haben sich auch die Gäste, die sich hier erholen. Früher traf man fast nur Sachsen und Berliner. Jetzt kommen die Meerliebhaber aus ganz Deutschland, aus Belgien, Holland, Polen, Schweden. Ich treffe Michael aus der Schweiz. Er mochte schon immer den Song „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“ von Nina Hagen. Im Songtext geht es um Hiddensee. Nun wollte er endlich die Insel mal kennenlernen und hat tatsächlich noch für drei Tage eine kleine Hütte oben am Klausner bekommen, gleich neben dem berühmten Leuchtturm im Dornbusch, fester viseuller Bestandteil des ARD-Wetters. Michael ist nicht enttäuscht worden, ihm gefällt die Insel und Sanddornlikör findet er auch lecker. Ich hab sie durchprobiert, alle Sandornliköre in allen Restaurants, denn jedes hat seinen hauseigenen Likör. Im WIESENECK im Kloster schmeckt er mir am besten.
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Das alte Tor in Kloster

Kloster zieht im Sommer die meisten Tagestouristen an, in Scharen fallen sie über den hügeligen Ort her, besetzen die Kutschen von Familie Neubauer, brausen durch den Nationalpark, stoppen am Gerhard-Hauptmann-Haus. Der Dramatiker liebte die Insel. Viele Promis besuchten ihn, damals. Selbst Albert Einstein logierte hier. Man wandelte über die Insel, schrieb, malte, rechnete oder tanzte mit Gret Palucca. Gret Palucca verließ 1959 die DDR, weil ihr neuer künstlerischer Tanz noch keine Fans hatte. Der junge Staat wollte sie aber nicht verlieren. Man bot ihr die Leitung der Dresdener Tanzschule an, einen Wagen mit Chauffeur und ein Grundstück auf Hiddensee. Palucca kehrte Sylt den Rücken. Die Tanzpädagogin hat ihre letzte Ruhestätte auf Hiddensee gefunden. Immer im Juli kommen die heutigen Palucca-Studenten auf die Insel und tanzen überall, auch mit den nackten Badegästen am Strand. Wer nicht am Strand die Hüften schwingen will, kann mit Petra Baum zum Leuchtturm wandern und Blüten pressen. Die Autorin Ute Fritsch bietet einen lustigen Spaziergang mit Sanddornschnäpschen an, in der Seebühne Hiddensee läuft Robinson Crusoe, Kinder können mit Susanne Tode Mantras aus Afrika, Asien und von den Indianern singen. Es gibt Kräuterwanderungen, Backnachmittage oder den Feldenkrais mit Erdmute Schlusnus zum Thema „Achtsamkeit, der Weg zu unserem Potential“. Lütt Matten würde sich wundern.
Wenn man will, kann man auf der Insel aber wie Lütt Matten auch ganz allein Wind und Meer erleben. Ich verlasse dafür meine Ferienwohnung morgens um 5. Kaffee in der einen Hand. Buch in der anderen. Ab zum Deich. Schon auf dem Weg dahin legt sich Morgennebel um meine Schulter. Es ist mehr als still.

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Morgennebel , Blick Richtung Kloster
Ablandiger Wind, da schweigt auch das Meer. Keine Urlauber auf dem Deich. Niemand am Strand. Ich höre nur das Rascheln meiner Buchseiten, den Kaffee im Becher glucksen, erste Vögel singen. Dann knirschende Sandgeräusche. Der erste Jogger. Man grüßt sich, man kennt sich, es ist ein wenig wie bei UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER. Dann knirscht es wieder. Der Müllmann kommt mit seinem Rad nebst Anhänger. Er leert die Mülleimer am Deich, manchmal nickt er morgens freundlich, manchmal grummelt er nur. Zu tun hat er immer, denn die vielen Sonnenuntergangsanbeter hinterlassen viel Müll. Auch der Pferdeäpfelaufsammler hat auf der Insel viel zu tun. Als die Stelle ausgeschrieben war, haben sich sogar Leute aus Amerika beworben, so skurril die Jobbezeichnung. Die Inselverwaltung jedoch traf eine lokale Entscheidung.
Der dritte Jogger passiert meine Deichbank. Es wird Zeit für mich, die Sportsachen anzuziehen. Deichrunde! Nur 7 km. Pah. Dann gehts zum Leuchtturm hinter Grieben.
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Allein am Dornbusch, 07:30 Uhr
Blick über die Insel, man ist absolut ungestört und ich habe Glück. Gute Sicht an diesem Morgen. Ich sehe die 70 km entfernte dänische Küste. Es geht zurück Richtung Kloster. Zuerst steigt mir Bäcker Kastens Brotduft in die Nase, dann kommen mir die ersten Urlauber entgegen. Die Fähre von Schaprode bringt die aktuellen Zeitungen, Zeit für eine Pause mit News aus aller Welt. Ich sehe einen Radfahrer, der fährt freihändig und liest dabei die Ostseezeitung.
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DIE Zeitung im Norden mit Nordlicht Wincent Weiss
Dann gehe ich noch eine halbe Deichrunde. Ich treffe Frau Feuer. Strankorbvermietung Feuer kann man überall lesen. Früher führte sie das FEUERSTÜBCHEN, der beste Ort auf der Insel, direkt hinterm Deich saß man auf einer schönen Wiese mit Fisch und wirklich perfekt gekühltem Wein. WANDEL. Das Stübchen hat nun zu, ich werde es immer vermissen.
Um 10 trinke ich einen Kaffee im SOMMERPALAST, Besitzerin Almut ist zu dieser Uhrzeit noch entspannt, der erste frische Kuchen verströmt seinen Duft. Schon wenig später stehen die ersten Kunden für ein Eis an. Almut hat eine eigene Eismanufaktur, die gute Qualität des Eises hat sich herumgesprochen. Der SOMMERPALAST war früher eine Villa, zu DDR-Zeiten eine Turnhalle. Dann verfiel das Objekt. Bis Almut mit Freunden dem schönen Haus wieder ein Gesicht schenkte.
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Bank am Sommerpalast – bester Blick auf die Main Street
Die Insel ist nun wach und auf der Main Street in Vitte herrscht reger Fahrradverkehr. Aber am Strand Richtung Neuendorf oder in der Heide oder auf dem Alten Bessin geht es still zu. Man findet hier Ruhe, wenn man es will. Auszeit vom Stadttrubel. Man kann sich mit dem Strom bewegen oder eben nicht. Ich mache immer Beides. Allein auf dem Hochuferweg oder abends tanzend am Strand, mit meiner Familie.
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Tanzparty am Strand
Wir hören die Beatles. Leider beschweren sich zwei junge Mädels, ich glaube es geht um die Lautstärke, nicht um unseren Tanzstil. Auf jeden Fall sind sie von YESTERDAY.
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Jeden Abend: Sonnenuntergang am Weststrand von Hiddensee
Ganz allein zum Sonnenuntergang schafft man es sogar einen Blick auf die innere Welt der Insel zu werfen und versteht – kurz – was es bedeutet, an einem Ort zu leben, wo andere Urlaub machen. Auch mit der Wende hat sich die Zahl der Urlauber und Tagestouristen kaum geändert, die Insulaner müssen ihr Geld von Mitte April bis Mitte Oktober verdient haben. Und sie alle wissen, wer sich einmal in Hiddensee verliebt hat, kommt wieder. Auch Karin und Jens aus Halle sind von der Fähre gestiegen, sie sitzen im SEEMANSHUS und essen Bratkartoffeln und Brathering. Wir winken uns zu.
Schon immer zwei Monate vor Juli vermisse ich in Berlin am Schreibtisch sitzend die Insel. Es ist fast wie Liebeskummer.  Und auch wenn der WANDEL nicht immer toll ist, man akzeptiert ihn. Wie die neue Frisur des Freundes, hm – wirklich so kurz? Dann gewöhnt man sich dran, sieht sich das Ungewohnte weg. Wie, wenn ich mit den Kindern auf einem Roadtrip bin, hinten im Wagen sitze und acht Stunden irgendwelche Rapper aus dem Radio mich anbrüllen und mehr oder weniger nur die Worte Slut, Whore und Bitch benutzen. Ich höre es weg. (Ok nach neun Stunden raste ich aus und bitte um Damian Rice oder Tom Odell.) Hiddensee befreit mich vom Alltag, heilt, macht mich froh, gut gelaunt und mega braun. Aus meinen drei Wochen würde ich immer gern sechs Wochen machen. Oder mehr? Hier leben? Es gibt Leute, die sind auf der Insel hängengeblieben. Wie Ramona, sie kellnerte im KLAUSNER im Sommer 1989, heute leitet sie den Laden.
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05:00 Uhr morgens
Die Insel hat viele Sonnentage, die erleben wir. Aber möchten wir wirklich wissen, wie es von O bis O hier ist? Von Oktober bis Ostern? Ich stelle mir immer vor, wie die Einheimischen sich in diesen Monaten von uns erholen und sich ab Februar auf den WANDEL freuen, auf ihre Kalender schauen und wissen, bald sind wir wieder da.
Jetzt in Berlin sitzend denke ich an die Rettungsschwimmer. Wie sie zum Dienstschluss die Fahne einholen, das Rettungsboot an Land ziehen, aus dem Kühlschrank kaltes Bier nehmen. Glitzerstunde sagen sie dazu. Die Sonne steht in einem bestimmten Winkel über dem Meer und verwandelt es in ein riesiges Paillettenkleid. Ich glaube selbst das Bier glitzert im Sonnenlicht. Wir prosten uns zu. Wir grinsen. Wir wissen, wir kommen wieder. Das wird sich nicht ändern.

3 Gedanken zu “#2019 / Kilometer 8 / Lütt Matten würde sich wundern

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