#2019/ Kilometer 9/ Hannibal würde sich wundern oder wie ich über die Alpen ging (Teil 1)

Es gibt verschiedene Möglichkeiten die Alpen zu überqueren. Mit dem Flugzeug aus dem Süden kommend benötigt man 30 Minuten. Hannibal schafft es in 18 Tagen. Mit dabei führt er 37 Elefanten. Sie überleben die Alpen, sterben dann aber alle im Winterlager. Manche erobern Europas Herz mit einem Gleitflieger oder kletternd. Andere mit Skiern oder mit dem Rad. Manche gehen von Garmisch nach Sterzing in 10 Tagen oder starten in München und wandern bis Venedig in drei Wochen. Allein oder geführt von Bergschulen, wofür sich 2019 rund 15 Prozent aller Wanderer entscheiden.

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Die Allgäuer Alpen (Foto von Fabian Wiktor (fabianwiktorphoto.com, https://www.instagram.com/fabsoutdoors/)

Ich entscheide mich für eine private Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran. Drei Länder, sechs Tage, knapp 120 Kilometer und etwas mehr als 10 000 Höhenmeter.  Privat geht es auf diesem Abschnitt des E5 eher selten zu. Deshalb ist der Wanderweg unter Fachleuten ein No-Go. Ich lasse mich davon nicht abschrecken. Man findet auf jedem Weg seine Ruhe. Mit meiner Planung bin ich nicht allein. Mike, Eva und Adam sind dabei. Wir vier waren zusammen auf dem Pacific Crest Trail 2017. Was für eine Reunion. Wir sind kaum eine Minute zusammen und es ist, als wären wir nie getrennt gewesen. Unsere Wanderseelen haben ein festes Band geknüpft. Wie ein perfektes Strickmuster. Wir können es alle vier lesen. Auch dabei ist Fabian, ein langjähriger Freund meines Sohnes. Meine Nichte Ella und Evas Schwester Ami. Adam aus Polen hat seine Freundin Maggy mitgebracht.

 

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Vorn v.l.n.r. Mike, Eva, Maggy und Jac, Hinten v.l.n.r. Ami, Ella, Adam, Fabian

Vor meiner Wanderung auf dem PCT habe ich mich mehr um mein Equipment als um meine Fitness gekümmert. Daraus habe ich gelernt. Ich wurde damals unter Schweiß und vielen Tränen fit. Klar, heulen geht immer. Aber fit werden in sechs Tagen? Niemals. Also mache ich mich auf zum Treppentraining im nahe gelegenen Volkspark Friedrichshain und laufe den ganzen Sommer.

Unsere Wandergruppe reist mit der Bahn ins Allgäu nach Oberstdorf. Im Zug treffen wir Klaus. Er kennt die Alpen gut, sagt er. Und warnt vor Neuschnee und viel Regen in den nächsten Tagen. Ich werfe meine Hand über die Schulter. Auch in den Alpen kann das Wetter sich schnell ändern. Es regnet in Oberstdorf. Schon seit drei Tagen sagt uns Kai am Empfang im Hostel. Wir werden trotzdem morgen starten. Wir alle haben uns eine Woche Auszeit vom Alltag erkämpft. Wir müssen morgen los. Wir wollen morgen los. Ich schaue aus dem Fenster und sehe nichts. Nur Waschküche. Dafür riecht es gut. Am ersten Abend wird in unserem Zimmer viel geraschelt. Alle packen aus und um und neu. Bei mir geht das schnell. Ich habe nur 5 Kilo Gepäck. Fabian hat knapp 20 Kilo. Kein Wunder. Ich sehe ein iPad, große Kopfhörer, eine gemütliche Jogginghose und eine echte Waschtasche. Zum Kameraequipment lasse ich mich nicht aus. Er liebt die Fotografie. Aber für Zahnbürste und Co. reicht ein Zipper Beutel. Und der wiegt höchstens 3 Gramm. Fabian lässt sich nur schwer missionieren.

Tag 1

7 Uhr und es regnet. Mit mir sitzt ein Paar im Frühstücksraum. Sie haben gerade eine weitere Nacht im Hostel gebucht. Warum möchte ich natürlich wissen. Weil es regnet, da warten sie lieber noch einen Tag. Ich finde sie sollten erst gar nicht starten. Unsere Gruppe frühstückt lange und viel. Dann starten wir. Dabei teilen wir uns auf, es gibt mehrere Wege bis zum ersten Anstieg. Vor uns liegen heute um die 15 Kilometer, davon geht es über 1200 Meter bergauf. Ziel ist die Kemptner Hütte, sie liegt auf 1844 Meter. Wir haben das letzte 8-Bett-Zimmer buchen können.

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Dass Wandern zum Trendsport geworden ist, spüren auch die Alpen. Als ich 2004 bis 2007 in Österreich mit Marianne & Michael und den lustigen Musikanten unterwegs war, wir drehten ein Musikformat für das ZDF, waren die Hütten und die Wege nie voll. Wandern hatte ein verstaubtes Image. Man überließ es den alten Leuten. Dies hat sich komplett geändert. Oma und Opa sind nicht mehr allein unterwegs. Wandern wird als Workout für den ganzen Körper geschätzt. Raus aus dem Alltag, rein ins Grüne und damit direkt in die Erholung. In den Alpen sind nun die Hütten oft ausgebucht und die Preise mit der Sehnsucht nach frischer Bergluft deutlich gestiegen.

In diesem Sommer sterben in einer Juliwoche acht Deutsche in den Alpen Österreichs. Sie waren allein unterwegs, sind abgerutscht, vom Weg abgekommen, haben sich verstiegen oder wurden vom Blitz getroffen. Unfälle dieser Art passieren jedes Jahr in den Alpen. Bis Ende September zählt allein Österreich in diesem Jahr 122 Alpentote. Jedes Jahr rät der Deutsche Alpenverein uns Wanderern das Gipfelstürmen gut zu planen und sich darauf auch körperlich vorzubereiten, sich nicht zu überschätzen, pro Stunde nicht mehr als 300 bis 400 Höhenmetern zu gehen, auf den Hütten nach Wetter und Altschnee zu fragen. All das klingt so einfach aber ist noch nicht normal.

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Eva und Ami (Foto https://www.instagram.com/fabsoutdoors/)

Nach einer halben Stunde an diesem 1. Tag, hört es auf zu regnen. Von Oberstdorf aus geht man gen Süden durch das malerische Trettachtal bis zur Spielmannsau. Immer im Blick hat man dabei den Allgäuer Hauptkamm mit seinen Gipfeln. Die sind so spitz und die Seiten fallen so krass senkrecht ab, dass sie es verdienen schroff genannt zu werden.

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Der Allgäuer Hauptkamm (Foto https://www.instagram.com/fabsoutdoors/)

Nach 8 Kilometern pausieren wir im Berggasthof Spielmannsau. Wir strahlen alle. Weil die Sonne sich zeigt. Und dann geht es bergauf. Zum ersten Mal an diesem Tag. Der Weg wird schmaler und schmaler, an manchen Stellen helfen Stahlseile. Ab und an pfeift jemand. Keiner aus unserer Gruppe. Wir hecheln ganz schön. Es sind Murmeltiere, die die Allgäuer Alpen ihr Zuhause nennen. Sie warnen ihre Familienmitglieder vor uns Eindringlingen.

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Mike, eine Stunde vor der Kemptner Hütte (Foto https://www.instagram.com/fabsoutdoors/)

Ich bin wie immer das Schlusslicht. Ich muss erst mal in der Natur ankommen, auf Herz und Atem hören. Fühlen, wie sich mein Körper mit dem Trail verbindet. Nach ein paar Stunden spüre ich, wie das Gehen den Alltag vertreibt, mir Kraft schenkt und mich erinnern lässt, was ich kann und aushalte. Ich überhole nur einen Wanderer. Er trägt einen prall gefüllten großen Rucksack. Das ist mein Haus sagt Ulli, er wusste nicht so richtig, wie gut die Versorgung hier auf dem E5 ist. Deswegen hat er alles eingepackt. Unter der Rucksackklappe klemmt ein Toastbrot, am Armgelenk trägt er einen Stoffbeutel voll mit Möhren. Ich gehe langsam sagt Ulli, ich habe Zeit. Ulli hat seine Uhr daheim gelassen. Und sein Telefon. Was ich mutig finde. Im Notfall kann ein Knopfdruck dich retten.

Wie schon auf dem Pacific Crest Trail gefallen mir diese kurzen aber meist intensiven Kontakte, die man unterwegs in der Einsamkeit knüpft. Sie sind etwas ganz Besonderes. Sie haben keine Vergangenheit und keine Zukunft. Sie sind ein Splitter, der nicht schmerzt. Auf einem Platz voller Menschen würde man sich nicht bemerken. Doch hier auf dem schmalen Weg wird man gesehen, erhört und manchmal umarmt. Und dann zieht man weiter. (Ich treffe Ulli einen Tag später abends wieder. Er gönnt sich einen Eisbecher, denn Eis trägt er nicht mit sich.)

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Die Kemptner Hütte (Foto https://www.instagram.com/fabsoutdoors/)

Im schönstem Sonnenuntergangslicht komme ich auf der Kemptner Hütte an. Der Schuhraum präsentiert die schlechteste Luft des Tages. Die Hütte ist ausgebucht, auch alle Notplätze sind belegt, die Duschschlange lang. Nur wenn die Sonne scheint, gibt es abends warmes Wasser. Wir haben Glück. Strom erzeugt die Hütte selbst über Wasserkraft. In den Räumen findet man keine Steckdosen, nur am Tresen. Es gibt weder WLAN noch Handy-Empfang. Die Hüttenbesitzer bitten uns sogar unseren eigenen Müll nicht vor Ort zu lassen. Das Konzept gefällt mir.

Meiner Nichte geht es an diesem ersten Abend nicht so gut. Sie hat sich etwas verausgabt und spürt nun keinen Hunger. Auch ich schaffe nur eine Suppe. Es wird morgen besser werden. Neben uns im Gastraum sitzen zwei Männer. Sie sind so um die 50. Sie wollen morgen zurückgehen, sie haben sich überschätzt. Eine mutige Entscheidung. Mit Verstand getroffen.

Als wir zu Bett gehen zeigt sich der Vollmond mit einem Hof. Regel: Bei einem Mond mit Hof in der Nacht wird der Bergsteiger hellhörig. Fällt noch dazu bis zu den Morgenstunden der Luftdruck, ist von einer größeren Bergtour abzusehen. In der Nacht fällt die Temperatur unter null.

 

 

 

 

 

 

6 Gedanken zu “#2019/ Kilometer 9/ Hannibal würde sich wundern oder wie ich über die Alpen ging (Teil 1)

  1. Also das Fotoequipment vom guten Fabian gefällt mir schonmal 😀
    Schön von dir zu lesen! Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht. Vor allem bei dem Cliffhanger!! 🙂

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Danke für die Unterstützung!