#2019 / Kilometer 6 /FRISCHE LUFT

Ich brauch FRISCHE LUFT singt Wincent Weiss. Er will wieder richtig atmen. Ich auch. Wie der Typ im und vom Song muss auch ich dafür meine Comfort Zone verlassen. Weg vom Sofa. Runter von der Insel. Ab in den Wald. Zeit mal wieder loszugehen.  Wincent nimmt seine Jacke, ich packe den Rucksack.

Ich haue aber nicht allein ab, mein PCT-Hiker-Freund Mike aus Dresden kommt mit. Zum Forststeig. Der schlängelt sich über 100 Kilometer durch die sächsische Schweiz und immer mal wieder über die Grenze nach Tschechien. Wir haben drei Tage und ein wenig Zeit. Ich packe wie auf dem PCT: Matratze, Schlafsack, Kocher, Essen. Auf dem Forststeig darf man biwakieren, einfach so in der Natur schlafen. Was reizt. Seitdem ich auf dem PCT war, fühle ich mich manchmal fremd daheim oder besser, um hier jetzt mal unisono mit Herrn Weiss zu sprechen: fühl mich dort fremd, wo mein Zuhause ist. Schon mit dem Rucksack auf dem Bahnsteig stehend, wird es besser. Sein Gewicht legt sich wie Balsam auf meine Seele, Haus dabei und los. Ich muss nach Schöna, mit dem Prag-Zug, an einem Freitag. Hölle. Natürlich habe ich keine Platzkarte gebucht, lande auf dem einzigen freien Platz im Fahrrad-Waggon, von Drahteseln eingekesselt, Klimaanlage auf off, Mitreisende auf Krawall gebürstet. Ich brauch definitiv FRISCHE LUFT. In Südkreuz kämpfen dann zwei Frauen um meinen Sitzplatz für ihre Räder, sie hätten schließlich mit Rad gebucht. Ich frage sie ernsthaft, ob ich aufstehen soll – für die Räder? Für die Beiden ist dies gar keine Frage. Sie suchen den Schaffner, sie wollen sich beschweren. Ich setze meine Kopfhörer auf, Spotify schlägt mir von Wincent „Auf halben Weg“ vor. Ich muss lachen, es ist nicht mehr weit zum Wanderparadies. Die bösen Raddamen kehren nicht zurück, vielleicht haben die Kellner im tschechischen Speisewagen ne Runde geschmissen. In Dresden setzen sich zwei Mädels zu mir, sie sind Zwillinge und gut gelaunt.Von ihren Eltern haben sie gestern Konzertkarten zum Geburtstag bekommen. Für Wincent Weiss. In Dresden. Ich muss nicht nachfragen. Sie sind ganz große Fans. Ich zeige ihnen meinen Spotify-Vorschlag. Sie sind natürlich textsicher.

forststeig

In Schöna beginnt der Forststeig für Mike und mich. Mike hat zur Begrüßung eiskalten Prosecco dabei, was für ein Luxus auf dem Trail. Der Trail schlängelt sich vom Bahnhof aus gleich bergauf, die Elbe wird immer kleiner, der Himmel rückt näher, die Menschen verschwinden. Keine 20 Minuten und man ist inmitten der sächsisch-böhmischen Schweiz. Der Wald verschluckt die Geräusche, die man loswerden wollte. Der Körper erinnert sich an Tausende gelaufene Kilometer. Alles fließt. „Verbind mir die Augen, ich komm blind zurecht.“ Wincent Weiss hat einen Wandersong geschrieben.

Highlight des Tages: ein Panoramablick auf den Großen Zschirnstein.

fast über den wolklen

Mike und ich schaffen an diesem späten Nachmittag noch 15 km und biwakieren kurz vor der Grenzbaude. Es gibt eine Waldtoilette, ein kleines Holzhaus, ein Picknicktisch und zwei Wanderer. Zwei Frauen. Ein Paar. Da Mike auch noch Rotwein im Gepäck hat, bleiben die Damen bei uns sitzen. Wir staunen, sie haben schon viele Wanderkilometer in Europa geschafft. Aber die Beiden staunen auch, über unsere Zeit auf dem PCT 2017 und über unsere Matratzen, die im Rasen aufgeblasen liegen. Kein Zelt? Nein. Und wenn es regnet? Na dann spanne ich mein Footprint. Wir sind im dichten Wald, da bleibt man erst mal trocken, bevor es unter den Bäumen beginnt, zwei mal zu regnen. Wir quatschen lange, als würden wir uns lange kennen. Henry David Thoreau hat recht: Ich ging in die Wälder weil ich wohl und intensiv leben wollte, das Mark des Lebens in mich aufsaugen wollte, um nicht in der Todesstunde inne zu werden, dass ich gar nicht gelebt hatte.

Natürlich beginnt es nachts zu regnen. Warme Tropfen wecken mich. Mike liegt nicht mehr neben mir. Mein Schnarchen hat ihn vertrieben. Es ist vier Uhr. Ich packe, Mike ist da, wir beschließen zu starten. Eine Stunde später sitzen wir bei Regen unter meinem Footprint und greifen immer wieder in die Bumix-Tüte. Und schweigen.

warten im regen

Wir schön Regen klingen kann und wie unterschiedlich. Auf dem Footprint prasselnd, auf dem Waldboden dunkel, auf meinem Schuh spitz, auf meiner Hand hohl. Als es nur noch tröpfelt gehen wir weiter, immer direkt am Grenzfluss entlang, die alten Grenzsteine aus dem Osten sind neu bemalt worden. Und natürlich auch neu gekennzeichnet worden, links steht ein großes C, rechts ein großes D. Mike schreitet voran, ich folge. Er ist der Navigator, ich bin ein V.I.P, muss mich um nichts kümmern. In Ostrov machen wir Halt, erwischen gerade noch so ein Frühstück. Dann macht der Koch eine Stunde Pause. Serviert wird nur noch Knoblauchsuppe. Mindestens 100 Schüsseln. Die Terrasse ist voll mit Kletterer. Man kann löffelnd direkt auf die Felsen schauen, Kletterer beobachten. Mir wird beim Hinschauen schwindlig und vom Knoblauchduft schlecht.

kletterer

Zwei Mädels setzen sich zu uns, sie sind auf Abifahrt, einige Jungs wollen klettern, sie nicht. Wanda trägt einen schwarzen Rucksack mit einem „W“ drauf. Ich staune und lobe das private Design. Sie lacht. Sie ist ein Fan. Und der Rucksack ist aus dem Fanartikelshop von Wincent Weiss. 

Wir ziehen weiter, alle Regenwolken sind verschwunden und nach ein paar Minuten auch die lauten Klettertalks. Der Wald verschluckt uns wieder, ausspucken lassen wir uns nicht. Wir wandern über Gipfelkuppen, durch wilde Felsschluchten, der Wald ist menschenleer. Dann im Bielatal machen wir in einer alten Kneipe halt, es ist wie vor 40 Jahren: der Ton, die Preise, das Essen. Ich glaube das letzte Mal habe ich so eine geile rote Fassbrause auf der Disco in Löhme getrunken, da war ich 15 und hatte mich gerade in Karsten verliebt, der mich aber nicht sah, die Jungs haben lieber über Traktoren geredet. (P.S. Bevor Fragen kommen: Es dauerte von der Fassbrause noch ein Jahr bis zum ersten Kuss mit mehr.)

speisetafel

Das Haus des Alpenvereins ist voll, also ziehen wir weiter und machen neben einem Fluss an einem Picknicktisch Halt für die Nacht. Wo Sören schon sitzt. Sören kommt aus Kopenhagen und ist seit dem letzten Jahr in Europa unterwegs. So sieht er auch aus: Bart und dünn. Er will einmal von oben nach unten, und dann von rechts nach links durch Europa gehen. In Deutschland hat er ab und an auf Biohöfen gearbeitet, sein Deutsch ist gut. Ich könnte stundenlang seinen Stories zuhören, aber der Däne will heute noch nach Ostrov, zu den Kletterern, ein wenig Party machen und vielleicht im Gasthof Wäsche waschen. Ich denke mal, er wird, wenn er von sich erzählt, literweise Knoblauchsuppe umsonst bekommen.

Die Fluß schickt uns nachts Feuchtigkeit, die Schlafsäcke werden nass. Ich schlafe unruhig, wälze mich ein wenig hin und her. Mike stöhnt. Er findet, dass meine Matratze Geräusche macht, wenn ich mich drehe. Ich höre da nix. Aber bald die ersten Vögel. Um sechs ziehen wir los, auch heute haben wir wieder mehr als 30 Kilometer vor uns. Zur besten Frühstückszeit passieren wir eine Hütte, die Belegschaft frühstückt gerade. Jungs aus Hannover, sie arbeiten alle zusammen, sie sind Messebauer. Der Chef ist mit Leidenschaft Wanderer. Der Jüngste nicht, aber er wollte mit, er sieht völlig fertig aus, jetzt schon. Zur Gruppe gehört ein Hund, der geht die meisten Kilometer, rennt immer von Hiker zu Hiker, nach hinten nach vorn. Als wir eine Weile zusammengehen werden auch Mike und ich in sein Rudel mit aufgenommen. Die Jungs pausieren öfter, springen in den See. Wir wollen weiter, verabreden uns aber für den Abend, auf einem Biwakplatz. Wir genießen den Schneebergblick am Katzstein und den Panoramablick auf dem Lambertsstein. Mike und ich verhalten uns wie auf dem PCT. Wir hiken und reden dabei kaum. Wenn wir pausieren, rede ich. Am späten Nachmittag setze ich meine Kopfhörer auf, ich brauche Musik. Ein Kollege hat mir die „Sing meinen Song“ – Spotify – Liste der aktuellen TV-Staffel, die meine Firma gerade produziert hat, geschickt. Wincent Weiss singt: „Hast du den gleichen Weg genommen? Um mir wieder ein bisschen näher zu kommen?“ Der Junge sollte wandern gehen.

Der Biwakplatz ist voll. Mit Radfahrern. Die haben riesige Zelte dabei. Warum, weiß ich nicht, was haben die da drin? Wir werfen unsere Matratzen aufs Feld. Die anderen Wanderer mit Zelt sind ein wenig pissed auf die Radfahrer. Die sollen nämlich den Campingplatz nehmen, doch da muss man zahlen. Die Biwakplätze sind für Wanderer. Mike und ich zeigen auf unsere Schlafteile. Regnen soll es nicht. Wir reden lange, alle wollen unsere PCT-Stories hören und Mike zaubert erneut Rotwein aus seinem Rucksack. Das hohe Gras singt mich in den Schlaf. Fast 38 Kilometer. Ich bin fertig. Und fürchte mich vor den letzten Tag.  Dann ist es schon wieder vorbei mit der FRISCHEN LUFT, und ich weiß jetzt schon, dass ich es „sicherlich nen Stückchen vermissen werde.“

Mike und ich sind die ersten am nächsten Morgen. Es ist 5 Uhr, aber wir wecken die Jungs aus Hannover. Auch sie müssen heute mit dem Weg fertig werden und zum Messebau zurück. So richtig freut sich nur der Jüngste im Bunde, er hat Körperschmerzen. Die letzten Kilometer sind hart. Es geht ständig steil hoch und steil runter. Wir müssen auf die stolzen Gipfel des Gohrisch und des Papststein klettern. Auf dem Papststein gibt es eine Ausflugsgaststätte, die noch geschlossen hat. Die Kellnerin, sie kommt aus Décin, hat ein großes Herz für Wanderer. Sie bringt uns Kaffee. Die Saison ist für sie lang, sie schafft es nicht zu wandern. Aber da sie jeden Tag zu Fuß zur Arbeit kommt, ist sie fit. Die letzten Kilometer gehen rasch vorbei. Im Bahnhof Bad Schandau leiste ich mir erneut eine Fassbrause. Sie schmeckt nach Heimat. Dann kommt Mikes Zug. Wir winken uns zu und wissen, im September geht es gemeinsam über die Alpen. „Irgendwo sein, wo ich noch nie war“ – singt Wincent Weiss. Ich sag es doch, ein Wandersong.

wie auf dem pct

Der Zug, der mich nach Berlin bringt, kommt aus Prag. Er ist voll. Er ist ein Backofen. In einem Abteil gibt es noch einen freien Platz. Ich sitze, ich schließe meine Augen, um mich herum fünf Frauen und Mädchen, die laut schwatzend ihre Pragreise auswerten. Zwei sind erkältet, sie haben einen Schal um. Ich zerfließe und bitte um FRISCHE LUFT. Die ist aus sagt Pia, 16. Das Fenster ist kaputt. Aber sie könne mir einen Song empfehlen, da geht es um …

Bis Berlin wird es nicht besser, ich überlebe und denke an die Alpen, die auf mich warten. Und ich kann es KAUM ERWARTEN, wie ebenfalls Wincent singt.

3 Gedanken zu “#2019 / Kilometer 6 /FRISCHE LUFT

  1. Danke fuers Mitnehmen! 🙂
    Bist du schon immer so leicht mit Menschen in Kontakt gekommen, oder kam das erst nach seit der PCT Zeit?
    Liebe Gruesse,
    Luisa

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Danke für die Unterstützung!