#Nach dem PCT / Kilometer 16 / DER LETZTE TAG

Der letzte Tag. Man mag ihn. Man hasst ihn. Erinnert Ihr Euch an letzte Tage? Ich hatte schon viele letzte Tage im Leben. Gute und weniger gute. Und ob positiv oder negativ – sie bleiben in Erinnerung. Wie das letzte Kapitel eines Buches oder der Abgesang eines Filmes, der Ausklang eines Songs. Das muß sein.

Manchmal sind letzte Tage ganz plötzlich da, man wußte nicht, dass dies ein „letzter Tag“ sein wird. Man kann sie kommen sehen, plant sie sogar, wünscht sie sich herbei. Nur noch einmal, dann ist es vorbei.

Als junges Mädchen im Ferienlager war der  letzte Tag immer schlimm. Man wußte, ab morgen steht über Allem Heimweh, was die Zeit im Camp meinte. Und garantiert hat man sich an diesem letzten Tag auf der letzten Disco mit einem Jungen geküsst. Küssen wollte man den schon die ganze Zeit. Doch woher die Traute nehmen. Was wenn es die absolute Katastrophe wird, dann trägt man diese wie ein Aushängeschild die ganzen Camptage mit sich rum? Aber am letzten Tag? Pah, was soll schon passieren? Ganz einfach: Zum Heimweh gesellt sich nicht geplanter Liebeskummer. Vom letzten Tag mit Kuss.

Vor fünf Wochen hatte ich meinen letzten Tag als NUR Mutter. Seit fünf Wochen bin ich Großmutter. Diesen letzten Tag habe ich wie schon lange nichts mehr herbeigesehnt. Ich war so aufgeregt, dass ich aus meinem Urlaub eher abgereist bin, um in der Nähe meines Sohnes und seiner Freundin zu sein. Und dann war der kleine Schnuppi endlich da. Viele haben vorher so Sachen gesagt wie, der Kreis des Lebens schließt sich, Generationswechsel, Omaliebe. Ich habe immer nur gedacht, labert mal schön. Aber dann siehst Du Deinen Sohn mit seinem Sohn und weißt, all das stimmt und ist richtig und ganz wunderbar.

Als ich zu meiner Oma Sandy ins Krankenhaus fuhr, wußte ich nicht, dass dieser 2. November ihr letzter Tag ist. In der Familie hatten wir beschlossen, uns abzuwechseln mit den Besuchen. Dieser Donnerstag war mein Vormittag. Man  ließ mich nicht in ihr Zimmer, ich wartete eine Weile auf dem Flur, dann setzte sich ein Arzt zu mir – und ich wußte sofort, was er mir mitteilen wird. Dies war vor 10 Jahren, aber ich weiß noch heute, wie der Arzt aussah, dass er einen roten Kugelschreiber oben in der Brusttasche des Kittels trug, ich auf einem Stuhl saß, dessen Armlehnen erneuert worden waren, aber in einer anderen Farbe. Es roch nach Kartoffelbrei, eine Schwester kam mit dem Speisewagen vorbei. Oma Sandy würde das gefallen. Sie mochte es, wenn wir alle beisammen waren, gekocht und gebacken wurde. Der letzte Tag meiner Oma Sandy wird für mich immer nach Kartoffelbrei riechen.

Den letzten Tag in einem Urlaub mag ich gar nicht. Ich verschiebe alles auf den berühmten letzten Drücker  – das Packen, das Buchen der Rückfahrtkarte, die Abreisezeit sowieso. Und weiß schon vorher, dass ich am ersten Abend daheim Kopfschmerzen haben werde, als Abwehr vor dem kommenden Alltag.

Auf dem Pacific Crest Trail war der letzte Tag Highlight und Schmerz. Es ist nun knapp ein Jahr her – aber ich erinnere mich an jedes Detail. Vor allem weil gerade jetzt die Hiker der Saison 2018 am Northern Terminus ankommen, euphorisch und zufrieden, dass sie es geschafft haben, noch ohne dem Wissen der Alten, wie sehr ihnen der Trail und das Leben mit ihm fehlen wird. Mein letzter Tag auf dem Trail war der 16. September. Dass wir an diesem Tag noch in Canada ankommen, hatten wir nicht geplant. Unsere Zelte standen auf einer windigen Höhe, ich war deshalb mit meinem am Abend zuvor nah an einen kleinen Waldrand gerückt. Die Nacht war kalt, der Morgen erst recht. Weiße Schnipsel auf meinem Zelt, ringsum gefrorenes Gras. Und Stefanias Platz bereits leer. Wie immer war sie wie schon in den letzten Tagen wegen der Kälte früh gestartet, gegen vier Uhr morgens hatte ich ihren Stove gehört und gewußt, dass sie sich Ramen kocht und losgeht, um nach ihrer Meinung nicht zu erfrieren. Nach dem Trail haben wir zusammen Silvester und ihren Geburtstags gefeiert, bei mir in Berlin. Wir haben Tel Aviv und Jerusalem besucht, wir waren gemeinsam in Brüssel. Auf dem Trail hatten wir uns das vorgenommen und nun wirklich wahr gemacht. Auch an diesem letzten Tag auf dem Trail schaffe ich früh nur meinen Kaffee und einen halben Keks. Shahak aus Tel Aviv schläft noch, gegen Nachmittag wird er mich an diesem Tag eingeholt haben. In Tel Aviv ist er Monate später der beste Gastgeber und Touristenführer. Und natürlich war er auch schon bei mir in Berlin. Ich stapfe allein los, mit Daunenjacke und Handschuhe. Erst nach zwei Stunden lege ich die warmen Sachen ab. Da überholen mich Gummie und Glowworm . Beide haben sich auf dem Trail kennengelernt, sind Wochen zusammen gewandert. In der High Sierra erkrankte er an der Höhenkrankheit und sie rettete ihm das Leben. Da gestand er ihr seine Liebe, für mich die greatest love story auf dem Trail. Weihnachten machte er ihr einen Heiratsantrag und jetzt habe ich auf FB ihr Hochzeitsfoto gesehen. Wir reden kurz. Beide sind müde und froh, es nun bald geschafft zu haben. Ich höre sie noch lange, er erzählt ununterbrochen Geschichten, worüber sie ununterbrochen lacht. So habe ich sie schon in Südkalifornien kennengelernt. Dass ich sie hier am letzten Tag erneut treffe ist bei so einer langen Reise fast ein Wunder. 

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Glowworm und Gummie

Mittags essen wir auf einem schönen kleinen Pass, die Natur präsentiert sich in ersten Herbstfarben.Eva und Gordon sind da. Monate zuvor hatten Eva und ich kühn errechnet, dass wir um den 16. September Canada erreichen werden. Immer wieder lachen wir darüber, sind ungläubig, vor allem weil wir uns nach 103 Tagen Trennung erst vor ein paar Tagen in Stehekin wiedergetroffen haben.

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Eva und ich in Stehekin

Ich starte mit Mike aus Dresden, an meinem Rucksack weht eine Fahne, die hatte ich gestern auf dem Trail gefunden. Mike macht ein Foto, welches heute in Übergröße in meiner Wohnung hängt. Natürlich hat auch Mike Silvester mit mir und anderen Hikern in Berlin gefeiert. Es wird Zeit, mit ihm mal in der sächsischen Schweiz zu wandern. Geschafft haben wir dies bisher leider nicht. Immer wieder überholen mich Hiker, die ich kenne und kommen mir Wanderer entgegen, die für Canada keine Einreisegenehmigung haben und zurück zum Hard Pass müssen. Über ein Wiedersehen freue ich mich sehr, ein Hiker aus Ashville, North Carolina. Das letzte Mal haben wir uns in Kennedy Meadow North getroffen, wir mochten uns auf anhieb. Dann ist es Nachmittag, am letzten Pass warten Eva und Gordon und überreden mich, noch heute bis Canada zu gehen.

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Auf zum letzten Pass!

Es geht nur bergab, wir könnten es bis 18 Uhr schaffen, wir sind fit, das Ziel ein Magnet. Alle anderen sagen auch JA. Wie Anne aus Paris. Erst gestern hatte sie uns eingeholt und zu meiner Freude wie immer Schokolade im Rucksack. Noch heute kaufe ich deswegen, wenn ich Schokolade kaufe, immer Salz-Mandel-Honig Ritter Sport. 

Was solls, dann ist es eben heute schon vorbei. Die letzten 8 Meilen rasen durch meinen Kopf tausende Bilder. Ich sehe mich mit meiner blauen Windjacke am Southern Terminus an der mexikanischen Grenze stehen, die Jacke habe ich längst nicht mehr, wie auch die Polster am Körper.

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Mit Eva am Southern Terminus, 10. April.

Ich sehe unser erstes gebuchtes Haus in Idyllwild, alle Gesichter der Pinky Gang, meine Hikerfamilie für die ersten 50 Tage. Manche sind dieses Jahr zurückgekehrt. Wie Calvin aus Vancouver, der letztes Jahr wegen des Beginns seines Medizinstudiums nicht den gesamten Trail gehen konnte. Oder wie Sören aus Dänemark, der die nächste Jahre immer für vier Wochen auf dem Trail sein wird, bis er wie ich den Obelisken an der Grenze zwischen USA und Canada berühren wird. Ich denke an Ben aus Houston, der gerade in Berlin war und zwei Tage nach mir Canada erreichen wird.

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Anne und ich in Washington

Damals habe ich geschrieben: Und dann ist man plötzlich da. Ganz einfach. Als wäre es von Beginn an klar gewesen, leicht, machbar. Immer vor Augen. Vergessen sind Schmerz und Schmerzen. Man ist da und sprachlos. Ich bin da und sprachlos. Dann zittere ich, dann rollen mir die Tränen, dann sage ich zig mal ‚Ich habe es wirklich geschafft….. ich habe es wirklich geschafft.‘ Wie ein Mantra. Dann rufen Eva und ich: ‚Clear Eyes, Full Hearts, Can’t lose.‘ Ich umarme Stefanie, auch sie weint. Und Mike. Irgendwie schweben wir alle über den Boden, jetzt könnten wir über den PCT fliegen.

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Der letzte Tag und geschafft!

Ein guter letzter Tag. Auf letzte Tage vorbereiten kann man sich nicht. Aber man kann nach dem Epilog wieder mit dem Prolog beginnen.

4 Gedanken zu “#Nach dem PCT / Kilometer 16 / DER LETZTE TAG

  1. Herzlichen Glückwunsch zum Enkelkind! 🙂
    In Alaska habe ich mal ein Nummerschildhalter gesehen mit der Aufschrift
    „Grandma’s my name,
    Spoiling’s my game“
    Viel Spaß dabei! 😀

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  2. heh liebe worte, du musst auf jeden fall losgehen, egal wie weit! ich habe daheim nie gesagt, dass ich es MUR bis kennedy meadow schaffen will‘ dann war ich da! und bin weitergegangen, change my life and me. auf dem trail habe ich do tolle menschen getroffen, always clapping when i wad late – you made it mom! dafuer musst du los, es fuehlen. frag mixh jederzeit, gern!

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  3. Liebe Jacqueline, vielen Dank für deinen lebendigen Reisebericht und allergrößten Respekt!!!
    Ich bin auch ü50 und eine Granny.
    Mein Traum wäre es den PCT in 2 Jahren zu gehen. Du ermutigst mich, da Du ja auch keine 30 mehr bist.
    Liebe Grüße Elli

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Danke für die Unterstützung!