Tag 72 – Tag 76 /KM 1596 – KM 1780 / Von Gold Beach nach Goos Bay / Meilen, Muscheln, Meeresrauschen

Am Tag 72 muss ich meinen Kaffee nicht in meinem Titanium – Pott kochen. Der hat übrigens eine Fehlkonstruktion, die Henkel werden beim Kochen heiss. Und natürlich fehlt in meinem Gepäck ein Topflappen. Der rechte Ärmel von meinem Schlaf-Longsleeve muss jeden Morgen diese Funktion erfüllen und ist nun wie ein Tennisarm länger. Wir frühstücken in der Lodge. Bei einem Continental Breakfast in den Staaten kann man alle Dinge einfach in den Toaster werfen. Dann sind sie gut, ob Bagel, Muffin oder French Toast.

Bevor wir losziehen entmiste ich meinen Rucksack, Einiges hat sich angesammelt wie zu viele Sachen – Panikeinkäufe wegen Kälte. Diese landen in einem Päckchen an meine Eltern – die armen, hab wieder keine Überraschung hineingelegt, aber so kann ich PCT drauf schreiben und sie müssen nicht zum Zoll.

Dann gehts los Richtung Humbug. Mike und ich wählen den Strand, der Boden ist fest, es läuft sich gut, an den Wind gewöhnen wir uns langsam. Zwei OCT-Hiker kommen uns entgegen. Wir folgen ihren Spuren und finden so kurz vorm beliebten Otter Point den Trail in den Wald. Stefanie läuft eine kleine Strasse am Meer entlang. Nur ein Auto überholt sie. Und dieses kehrt nach 5 min zurück. Darin eine Mama mit ihren drei Kids. Alle wunderschön, so Stefanie, mit krassen blauen Augen. Die Mutter sagt, dass ihre Kids sie mit Fragen bombardiert haben, nachdem sie Stefanie überholten. Für eine ruhige Weiterfahrt kehrte sie um. Die Kids legen los: Was machst du hier? Warum bist du allein? Warum hast du Stöcke in der Hand? Wo ist deine Mama? Warum ist dein Knie verbunden? Hast du Angst? Wohin gehst du? Hast du Essen? Wir amüsieren uns köstlich über die herrlich frische Neugier der Kinder.

Am Nachmittag machen wir Halt an einer kleinen Grocery in Nesika. Die Verkäuferin ist nett, wir dürfen die Mitarbeitertoilette benutzen. Dann gibt es Kaffee und Chips und ich versuche Eva zu erreichen. Sie geht ran, im Hintergrund ruft die Pinky Gang ‚Jackie‘ und ‚Mom‘ und ‚Miss you‘.

Die Pinky Gang ist in Mono Creek, sieben Tage waren sie unterwegs, haben im Schnee über 80 Meilen geschafft und sind mehr oder weniger guter Dinge. Brooks hat die Nase voll vom Schnee und will vielleicht flipfloppen. Für Eva sind Abenteuer und Schnee ok, man hilft sich gegenseitig. Unfassbar, wie sie das durchhält. Die letzten Tage war das Team wegen der vollen Flüsse auf einer alternativen Route unterwegs. Und am Tag ist es heiss in der Sierra. Jetzt wollen die meisten bis Mammouth Lake gehen und dann schauen. Eva und ich versprechen uns erneut zusammen Washington zu machen. Wir wollen auf jeden Fall gemeinsam am Ende den Obelisken berühren. Es ist schön ihre Stimme zu hören, wir vermissen uns. Und natürlich sprechen wir über Trail Romance! Oliver ist weiter mit der schönen rothaarigen Australierin Maggie zusammen. Und ‚Wreckingball‘, das 20jährige Girl aus Dänemark, klebt immer noch an Ben. Sie helfen sich gegenseitig, hiken immer zusammen. Eva berichtet, dass ‚Wreckingball‘ ihr erzählt hat, dass sie noch auf ihren ersten richtigen Kuss wartet und auf mehr! Die Pinky Gang hat nun einen Plan: Nächste Woche haben beide Geburtstag, es wird Flaschendrehen gespielt und auf jeden Fall Kiss Kiss Kiss gerufen. Ich denke, meinem geliebten ‚Kindergarten‘ geht es also weiterhin gut. Auch Merissa postet, dass sie wieder fit ist und nun schaut, wer mit ihr von South Lake Tahoo starten kann. Jö ist bis Fish Lake gewandert, dann wieder Schnee, jetzt pausiert er erst mal daheim in Portland.

Dann gehts für 5 Meilen nochmal an den Strand. Der Sand ist jetzt weicher, ich bin langsam und vorsichtig. Als ich ankomme hat Mike schon einen Schlafplatz ausgesucht, mit Toiletten und – für ihn immer sehr wichtig – mit Picknicktisch und Bänken. Stefanie freut sich auf die Nacht, denn in Gold Beach hat sie ihre neue Matte per Post bekommen. Seit zig Nächten liess die alte Luft, morgens lag sie immer auf den Boden.

Am nächsten Morgen hat sich wie immer über Nacht der Nebel zu uns gelegt, alles ist feucht. Also ab mit dem Zeug in die Sonne. Dann wählen Mike und ich wieder den Strand als Trail, Patrick aus Antwerpen und Stefanie die Strasse. Kein Wunder, dass Patricks Trailname ‚La Strada‘ ist, statt den PCT nahm er öfter mal die Dirt Road.

Der Strand ist breit und menschenleer. Nur Muscheln, Meeresrauschen und zwei Hiker, die Meile für Meile gehen. Dann kommt uns eine feine Lady mit ihren zwei Labradoren, Cora und Gerry, entgegen. Sie fragt, woher wir zu Fuss kommen. Ich sage: Mexico. Die Kinnlade fällt ihr runter. Dann sprechen wir über den PCT und sie erzählt, dass auch in Oregon der Schnee in diesem Winter mehr als rekordverdächtig war. Die Hunde geniessen derweil das Strandleben, springen in den nahe gelegenen Creek und sind glücklich. Als wir weiterziehen wollen warnt uns die Dame vor der kommenden Flut. Wir haben die Zeit auf dem Smartphone, doch die Dame weiss, dass der Strand nicht begehbar ist. In einer Meile wird er schmal und dann haben wir Hiker keinen Platz. So müssen wir auf die Strasse, streicheln aber vorher nochmal die Hunde. Wieder auf dem Highway, okay Oregon Coast Road, aber Strasse. Ich bekomme schlechte Laune, da hilft nur die fröhliche Musikliste von Julia D. Hab lieben Dank! Wir treffen Patrick und Stefanie wieder, sie sind in eine Sackgasse gelaufen. Ein Pickup folgt dem nächsten. Den Sinn solcher Autos habe ich bisher nicht verstanden. Noch nie habe ich einen Pickup gesehen, dessen Ladefläche gefüllt war. Schlafen die nachts da drauf und nehmen sie ab und an Hiker mit?

Als wir uns vor einem riesigen Anwesen mit einem wirklich hässlichen Gate zum Lunch niederlassen und unsere Kocher anwerfen kommen vier weitere Hiker. PCT? Ja, klar! Und natürlich geht es um den Schnee, wo man aufgehört an, wann die beste Zeit ist, zurück zu kehren.

Die drei Jungs aus Boston ziehen weiter, wir bleiben mit Diana aus Frankreich sitzen, sie studiert im staatlichen Rahmen Ingenieurwesen. Seit drei Jahren pausiert sie, war in Australien, in Europa unterwegs, jetzt auf dem PCT. Danach wird sie wieder die Schulbank drücken.

Wir gehen weiter, einen kurzen Abschnitt direkt an der Küste entlang, dann acht Meilen Highway. Frust. Auf dem PCT habe ich einen Bären gesehen, einen Coyoten, Bobcats, Salamander, Hasen, Rehe. Hier sehe ich nur tote Tiere – eine überfahrene, sicher geliebte und jetzt vermisste Hauskatze, zerquetschte Mäuse und Schlangen. Ok – Musikliste von Jenny G., schnell bin ich im Tunnel, nur Sound und Schritte. Danke Topfi, always Petra!

Ich passiere eine Baustelle. Der Mann mit der Flagge, er regelt den Verkehr auf der einzigen Spur, fragt, wie es mir geht. Naja auf der Strasse laufen ist Scheisse. Er, an seiner orangefarbenen Jacke steht ‚Nathan‘, antwortet: Mein Job ist auch Scheisse. Nathan, wovon träumst du? Nathan: To hike with you!!! Na dann lass die Flagge fallen!

Dann lachen wir, es gibt einen Handschlag und weiter.

Gegen 17 Uhr sind wir im Humbug Mountains State Park mit Campground. Es gibt eine Tensite für Hiker und Bicycle, für 5 Dollar plus Dusche, Wasser und Holz für ein Campfire. Der erste Radfahrer grüsst auch gleich – er hat es sich gemütlich gemacht, ein Feuerchen brennt, sein Zelt steht, er sitzt auf einem kleinen Campingstuhl, neben sich ein Fläschen Rotwein.

Ich dusche lange, geniesse den harten Wasserstrahl auf meinem Rücken und bekomme bessere Laune. Wir kochen, quatschen mit Diana. Auch sie vermisst ihre Trailfamilie. Wir reden über das Phänomen Trailfamilie. Vor dem Start habe ich viele Blogs gelesen, Movies über den PCT geschaut, aber mir war nicht bewusst, wie nah man anderen Hikern kommt, wie nah ich ihnen komme. Wie ich mich auf sie verlasse, wie ich sie brauche, kenne, vermisse, sie beeinflusse, lerne, mich dadurch besser und auch anders erkenne. Das ist eben auch der PCT – alles gleich und jetzt und ohne Schranken, sehr direkt.

Ich schlafe schlecht, vielleicht vermisse ich den Meeressound.

22.6. – wir starten gegen acht und laufen zügig, wir freuen uns auf Lunch im Crazy Norwegian Restaurant. Da war ich auch vor zwei Jahren mit den Jungs und habe einen Salat gegessen. Jetzt leiste ich mir Fish & Chips large und einen Rasperry Pie. Herrlich. Das WLan im Restaurant ist gut, ich lade mir vier neue Hörbücher runter. Dann gehts für 8 Meilen an den Strand. Der Wind wird zum Sturm, der Sand zum kostenlosen Peeling. Ich ziehe meine Regenhose an und meine Regenjacke. Der fliegende Sand klingt auf den Sachen wie Hagel auf einem Autodach. Ich kämpfe mehr mit den Naturgewalten als das ich gehe. Nach vier Stunden sind wir drei völlig fertig – Patrick hat wegen Fussproblemen den Bus genommen. Dann kommt auch noch ein Fluss. Das Wasser geht mir bis über die Knie, es ist bitterkalt. Aber geschafft. Hinter ein Düne mit Blick auf die untergehende Sonne machen wir halt. Ich esse nur ein Riegel. Mike zaubert aus seinem Rucksack Rotwein, zwar im Tetrapack, aber perfekt für den Blick auf das nun fast rote Meer. Und der Wind geht mit uns schlafen.

Am nächsten Morgen weckt mich Stefanie: Jackie…. it is 7:30! Ich erschrecke, so spät schon, aber gefühlt schlafe ich erst seit 2 h, in der Nacht war ich ein paar mal wach. Also schnell den Kocher anwerfen, Kaffee trinken und packen zur gleichen Zeit. Wir ziehen los, wieder mit Wind von vorn. Nach drei Stunden stoppt uns ein Fluss. Mike startet als erster unser Rivercrossing. Doch schon nach ein paar Schritten steht er bis zur Hüfte im Wasser. Da kommen wir nicht durch. Wir müssen fast den ganzen Weg zurück gehen und laufen dann eine kleine Strasse, die zum Highway führt. Es ist heiss, die Strasse fast weich. Ich bekomme stechende Kopfschmerzen, setze mich in den Schatten, trinke Wasser, nehme eine Tablette, esse Kekse. Meine Laune sinkt mächtig nach unten. Auf dem OCT muss man immer auf den anderen warten, da man nie weiss, wo genau der Weg ist. Dies war auf dem PCT nicht so, da hat man sich bei Meile xxx verabredet und Punkt. Dieses pure allein Laufen fehlt mir manchmal.

Ein paar Meilen vor Bandon sehen wir eine alte Markthalle, ein Abstecher für Cola geht immer. Ein alter Mann sitzt an einer Kasse und verkauft, was er auftreiben konnte. Gurkengläser stehen neben geschnitzten Bären. Muschelketten  liegen neben abgelaufenem Hundefutter. ‚Damit kann man düngen‘, sagt der alte Mann. Ich glaub ich muss im Wörterbuch nachschauen. Ich nehme eine Cola für einen Dollar. Dann kommt ein junger Mann rein, ich schätze ihn auf 18,19 und fragt, ob seine Mom uns mit nach Bandon mitnehmen kann. Wir drei schauen uns an, klar gern. So klettern wir auf den Pickup von Kevins Mom. Kevin setzt sich zu uns, er will wissen, warum wir auf der Strasse leben. Wir wandern, wir machen Pause von der Arbeit – für ihn unvorstellbar. Kevin sieht ein wenig verloren ist, als er sagt: ‚Ich war immer nur hier. Und meine Freundin Sarah will hier nicht weg, sie will, dass ich mir einen Pickup kaufe.‘ Kevin arbeitet gerade auf einer Pferdefarm, davor hat er Gas für Haushalte abgefüllt. Als wir uns verabschieden sagt er, dass er uns cool findet. Wir sagen er soll mit seinem Pickup-Geld wandern gehen.

Dann kaufen wir ein, trinken Kaffee und gehen zum Bullards Beach Campground. Ich koche zum ersten Mal ein Knorr-Gericht, irgendwas mit Blumenkohl. Es kleben wirklich grüne Stücke auf den Nudeln.

Mit am Tisch in unserer kleinen Ecke sitzt eine Hiker-Familie. Ezra, mit seiner Schwester und seiner Mutter. Die Kinder leben in Portland, die Mutter in Phönix, Arizona. Im letzten Jahr waren sie schon auf dem AT. Sie freuen sich, dass durch die PCT-Hiker der OCT etwas bekannter wird. Als ich mit Ezra Wasser hole sage ich ihm, dass ich diese Familienwanderung sehr mag. Eszra erzählt: Wir helfen uns gegenseitig, wir haben vor zwei Jahren durch einen Autounfall unseren Dad verloren.

Ich drücke ihn wortlos. Als ich im Schlafsack liege höre ich aus dem Familienzelt Esras Stimme. Er liest laut ‚Die Abenteuer des Tom Sawyer‘ vor. Das gefällt mir.

Am Tag 76, es ist der 24. Juni, gehts vom Campground direkt an den Strand. Der ist super breit, fest und es weht kein Wind. Ich fühle mich wie ein Schulkind am ersten Ferientag, voller Vorfreude auf das, was kommen wird.

Nach vier Stunden erreichen wir Felsen. Mike sagt: Da müssen wir rüber. Ich packe meine Stöcke ins Netz vom Rucksack und klettere los. Laaaaangsam. Doch Mike sagt, wir müssen uns beeilen, die Flut kommt. Irgendwann stehen wir an der Felsspitze im Wasser, die Wellen drücken mich gegen die Steine, ich versuche mich festzuhalten und greife in scharfe Muscheln. Die Flut drückt mich immer wieder gegen die Steine. Als ich es geschafft habe und atemlos am Strand stehe sehe ich, dass beide Hände bluten und mein rechter Oberschenkel an mehreren Stellen aufgerissen ist. Bissl Sanitizer rüber und weiter. Es ist, als hätte all das auf mich gewartet. Die Orte und die Ereignisse.

Dann nimmt die Flut zu und wir müssen den Strand verlassen, gehen 11 Meilen eine kleine Dirt Road und später eine Nebenstrasse nach Charleston. Eine junge Frau, voll tätoviert und mit Pitbull im Wagen, stoppt und will mir einfach nur sagen, dass sie liebt, was ich tue. Ja, ich liebe es auch.

Im High Tide Cafe geniessen wir nach über 19 Meilen Burger und Pommes. Dann schaffen wir es noch in die Dünen von Goos Bay – eine gute Entscheidung, neben unserem Schlafsack spielen die Jugendlichen verrückt und schiessen mit ihren Quards durch die Dünen!

Ich kuschle mich ein und denke daran, dass bald Bergfest in meinem neuen Leben ist.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Ein Gedanke zu “Tag 72 – Tag 76 /KM 1596 – KM 1780 / Von Gold Beach nach Goos Bay / Meilen, Muscheln, Meeresrauschen

  1. Ich wurde bei deiner Beschreibung des Phänomens Trail-Family geradezu sentimental. Das kenne ich vom Camino. Es ist unfassbar, wie nah (und das so schnell) man Menschen kommt, wenn man ein gemeinsames Ziel hat (und ich vermute, dass es das ist, was einen bindet) und es ist wohltuend, dass man, auf das nötigste reduziert, so unheimlich gleich ist. Man lernt Menschen kennen, die im normalen Leben durchs Raster gefallen wären und erfährt Dinge, die ihre engsten Freunde oft nicht wissen. So schön es ist, alleine zu laufen, so schön ist es, in den Pausen oder abends die Gemeinschaft zu genießen. Das habe ich umso mehr vermisst, als ich im Herbst 500km in Deutschland unterwegs war. Denn ein guter Weg, egal ob Trail oder Camino, wird gleichermaßen von Natur und Menschen geprägt.

    Like

Danke für die Unterstützung!